Im Oktober dieses Jahres jährt sich zum 75. Mal eine der großen Heldengeschichten des Widerstands gegen die nationalsozialistische Judenvernichtung: die Rettung der dänischen Juden. Weite Teile der dänischen Bevölkerung halfen im Oktober 1943 dabei, mehr als 7000 Juden über den Öresund ins sichere Schweden zu bringen.
Die Rettungsaktion ist fester Bestandteil von Dänemarks Identität und Selbstverständnis. Und doch sagt die dänische Gesandte in Deutschland, Catherine Hall Uttenthal, heute: »Wir können uns aber nicht davor verschließen, dass es auch in Dänemark Antisemitismus gibt.«
Es ist nicht allein ein deutsches Problem, über das hier gesprochen werden soll, so die Gesandte anlässlich einer von der dänischen Botschaft in Berlin veranstalteten Diskussion zum Thema »Antisemitismus in Deutschland und Europa – Herausforderungen und Lösungen«. Denn: »Es ist ein Problem, über das nicht geschwiegen werden darf.«
gesamtgesellschaft Antisemitismus ist nicht nur kein rein deutsches Problem, auch »kein jüdisches Problem«, sondern eine Herausforderung für die Gesamtgesellschaft, für unsere demokratische Grundordnung. Dieser Einschätzung von Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, konnten sich am Montag noch alle Podiumsteilnehmer anschließen.
Komplizierter wurde es bereits bei der Verortung dieses Phänomens. Den Antisemitismus der Rechten erwähnte Botmann ebenso wie den linken Antisemitismus und denjenigen, der seine Wurzeln in der muslimischen Gemeinschaft hat – um sich gleichzeitig gegen Versuche der »Anbiederung an die jüdische Gemeinschaft« durch rechtspopulistische Bewegungen wie Pegida zu wehren, auf deren Demonstrationen »perfiderweise Israelfahnen« zu sehen seien.
Dalia Grinfeld, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), hält angesichts eigener Erfahrungen an der Hochschule die Unterscheidung in rechten, linken und muslimischen Antisemitismus für »irrelevant«. Viel erschreckender findet sie: »Antisemitismus ist bei Leuten mit Abitur angekommen.«
Erfahrungsberichte Unter den Gästen an diesem Abend ist Felix Klein, der neue Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung. »Die Lage analysieren« und »ein Bild bekommen« will er in diesem Amt zunächst, wie er sagt. Warum diese Analyse so notwendig ist, wird später deutlich. Zunächst einmal stehen Erfahrungsberichte im Mittelpunkt.
Es geht um Erfahrungen wie die des Freizeitfußballers Fabian Weißbarth von Makkabi Berlin, dessen Team in der untersten Berliner Spielklasse bei zwei Vorfällen im Jahr 2015 von gegnerischen Spielern massiv antisemitisch beschimpft und auch bedroht wurde. Weißbarth berichtet nüchtern von den inzwischen einige Jahre zurückliegenden Vorfällen, von Sportgerichtsverhandlungen, bei denen Richter mit Bierglas auf dem Tisch das Ganze zur Bagatelle erklären wollten.
Weißbarth berichtet aber auch von der Reaktion des Berliner Fußball-Verbandes, dessen Vorstand sehr sensibel reagiert und klargemacht habe: »Berlins Fußball duldet das nicht.« Der Erfolg: Nach den Skandalspielen von 2015 gab es in den folgenden Jahren keine ähnlichen Vorfälle mehr. »Ich kann nicht sagen«, so Weißbarth, »dass es schlimmer geworden ist.«
Der Restaurantinhaber Yorai Feinberg sieht das anders: »Die Zeiten haben sich verschlechtert.« Im vergangenen Jahr machte ein Vorfall Schlagzeilen, bei dem Feinberg vor seinem Berliner Restaurant mehrere Minuten lang von einem anscheinend angetrunkenen Mann antisemitisch beleidigt und mit dem Tod bedroht wurde. Feinberg und seine Freundin filmten die Wutrede, das Video verbreitete sich im Internet.
Feinberg, der nach eigenen Angaben bereits in neun Ländern und 18 Städten gelebt hat, sagt: »Es gefällt mir hier.« Nach den Presseberichten vom vergangenen Jahr habe es eine große Welle der Solidarität mit ihm gegeben. Und doch ist er sich nicht sicher, wie lange er noch in Deutschland bleiben kann: »Ich will meine Kinder hier nicht zur Schule schicken.« Was, so seine Sorge, werde in zehn Jahren sein? Es herrsche eine Atmosphäre der Angst. Neulich knallten vor Feinbergs Restaurant ein paar Feuerwerkskörper – sämtliche Gäste seien zusammengefahren. Jeder hält einen Terroranschlag für denkbar.
sensibilität Gibt es, wie Feinberg es spürt, tatsächlich eine Zunahme von antisemitischen Vorfällen in Deutschland, die sich auch in Zahlen ausdrücken lässt? Oder aber gibt es, wie von Weißbarth anhand des Fußballs beschrieben, eher eine erhöhte Sensibilität für das Thema, die Vorfälle ans Licht bringt, die früher im Dunkeln blieben?
Was in den Erlebnisberichten als subjektive Wahrnehmung für sich steht, wird zur emotional ausgetragenen Kontroverse, als die im Publikum anwesende Historikerin Juliane Wetzel entschieden Einspruch erhebt gegen die wiederholt geäußerte Feststellung eines zunehmenden Antisemitismus: Umfragen wie auch Statistiken zu Straftaten zeigten zwar ein hohes Level antisemitischer Vorfälle, aber keine Zunahme, so Wetzel.
Als »herzlos« bezeichnete der Islamismus-Experte Ahmad Mansour Wetzels Verweis auf die nackten Zahlen – immerhin seien Menschen betroffen: »Ich kenne Juden, die daran denken auszuwandern«, sagte er.
Moderatorin Lea Rosh nahm Wetzel gegen derlei Vorwürfe in Schutz, gab aber zu bedenken, dass Antisemitismus doch in jedem Fall heute offener gezeigt werde als früher.
Interessante Parallelen versprach der wiederholt geäußerte Vergleich zur »MeToo«-Debatte über Sexismus und Machtmissbrauch. Auch Betroffene von antisemitischen Vorfällen würden sich nach langem Schweigen teils erst jetzt an die Öffentlichkeit wagen, wurde Wetzel aus dem Publikum entgegengehalten.
Dass dies kein eigentlicher Widerspruch ist, sondern sich die Positionen hier möglicherweise treffen, ging in der hitzig geführten Diskussion leider unter: Denn auch die MeToo-Debatte belegt ja gerade keine Zunahme von Übergriffen, sondern eine erhöhte Sensibilität für das Thema. Vielleicht liegt hierin die optimistische Botschaft des Abends, die die Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli in folgende Worte fasste: »Das Bewusstsein, dass etwas passieren muss, war noch nie so groß wie heute.«