Argentinien

Dawnen in der Pampa

Die Synagoge von Colonia Avigdor ist ein kleines Gebäude mit weißen Wänden und rot-braunem Dach, einstöckig wie fast alle Häuser im Ort. Sie steht an der Hauptstraße des verschlafenen 800-Seelen-Dorfs in der argentinischen Provinz Entre Ríos. Drinnen, im holzgetäfelten Innenraum, sitzt Carmen Rosenblatt auf einem der zwei Dutzend Stühle.

Durch zwei Fenster mit bunten Scheiben in Form von Davidsternen fällt schwaches Licht. Die 68-Jährige zeigt auf den roten Samtvorhang, hinter dem sich vier Torarollen verbergen: »Sie stammen aus Deutschland. So Gott will, werden sie noch vielen Generationen erhalten bleiben. Auch den Chanukkaleuchter dort hat eine deutsche Familie mitgebracht.«

zuflucht Die Synagoge von Colonia Avigdor wurde 1936 gebaut. In jenem Jahr ließen sich die ersten deutsch-jüdischen Familien hier nieder. Sie hatten Nazi-Deutschland rechtzeitig verlassen können und fanden in Argentinien, buchstäblich in der Pampa, einen Zufluchtsort. »Hier war nichts, gar nichts. Nur Wald. Die Siedler mussten erst einmal Wege schlagen«, beschreibt Carmen Rosenblatt den schwierigen Neuanfang.

Ihre Eltern und Großeltern gehörten zu den 125 Familien, denen die Jewish Colonization Association (JCA) in Colonia Avigdor je 175 Hektar Land, ein Häuschen sowie ein paar Kühe und Pferde überließ. Die JCA hatte Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Philanthrop Baron Moritz von Hirsch gegründet, um verfolgten Juden aus Osteuropa die Auswanderung zu ermöglichen.

»Das Land reichte kaum zum Überleben. Aber die Philosophie der JCA war gut: Die Siedler bekamen nichts geschenkt, sondern mussten das Land in jährlichen Quoten abzahlen«, erklärt Rosenblatt, die in Colonia Avigdor geboren wurde. Ihre Eltern, Einwandererkinder, lernten sich hier kennen. Sie bissen sich durch, kauften mit der Zeit Land dazu und bauten eine Rinderzucht auf. Heute führen Carmen und ihr Mann den Betrieb. Sie gehören zu den nur noch etwa 15 jüdischen Familien im Dorf.

Dauerregen Der 1923 in Fürth geborene Schriftsteller Robert Schopflocher, einst Verwalter der JCA in Colonia Avigdor, beschreibt in seiner Autobiografie Weit von wo. Leben zwischen drei Welten (2010) das harte Leben, das die Siedler mit der Zeit in die Städte trieb: »Sie waren den Launen der Natur ausgesetzt, den Dürreperioden und dem Dauerregen, dem Einfall von Heuschrecken und Papageienschwärmen. Viehseuchen dezimierten die Herden.

Erst Jahrzehnte später, als der Handvoll übriggebliebener Siedler und deren Nachkommen eine größere Anbaufläche zur Verfügung stand, trat ein gewisser Wohlstand ein, dem die Errungenschaften der Zivilisation folgten: Allwetterstraßen, Telefon, Fernsehen, elektrischer Strom. Für viele zu spät! Längst hatte die in den 50er-Jahren einsetzende Landflucht auch diese Gegend erreicht.«

Manfred Pfeifer ist heute der Einzige in Colonia Avigdor, der noch in Deutschland geboren wurde. Der 78-Jährige betreibt mit seinem Sohn einen Mastbetrieb mit 500 Rindern. Er ist eine Art Prototyp des jüdischen Gauchos, wie ihn der argentinische Schriftsteller Alberto Gerchunoff 1910 in seinem Buch Los Gauchos Judíos beschrieb. »Ich glaube, meine Familie ist hiergeblieben, weil sie in Deutschland auch auf dem Dorf gelebt hatte. Leute mit Landerfahrung haben hier überlebt«, sagt der Viehzüchter und fügt hinzu, seine Eltern hätten nie geklagt. »Schlecht ist es uns nicht ergangen. Wir können hier in Ruhe leben und haben viel erreicht.«

Manfredo, wie Pfeifer im Dorf genannt wird, hat das lebendige jüdische Leben in Colonia Avigdor noch erlebt. Der Ort hatte keinen eigenen Rabbiner, zu den Hohen Feiertagen wurde einer aus der Stadt ins Dorf entsandt. Die Siedler hielten sich an die Speisegesetze, Rinder wurden geschächtet. Auch die katholischen Nachbarn kauften dieses Fleisch. So hätten sie sicher sein können, dass es von gesunden Tieren stammte, sagt Carmen Rosenblatt, deren Großvater sich als Schochet betätigte.

Mate Ruben Kaiser ist der Direktor einer staatlichen Landschule in der Nähe von Colonia Avigdor. Der 44-Jährige steht vor dem kleinen Schulgebäude und saugt durch ein Röhrchen bitteren Mate-Aufguss aus einem Becher – eine in Argentinien vor allem auf dem Land verbreitete Sitte. Kaisers Großvater wanderte aus Deutschland ein, seine Eltern leben noch heute in dem Haus, das sie von der JCA erhielten.

»Dass mein Vater ein katholisches Mädchen geheiratet hat, war damals nicht gut angesehen«, erzählt der Schuldirektor. Er und seine Geschwister wurden jüdisch erzogen. »Ich glaube an Gott, gehe aber nur an Jom Kippur in die Synagoge. Mein Vater fastet. Es ist der einzige Tag im Jahr, an dem er nicht arbeitet.« Bedauernd sagt Ruben Kaiser, mit den Älteren verschwinde langsam das jüdische Leben im Dorf.

Noch kommen Rabbiner oder Rabbinatsstudenten zu Rosch Haschana, Jom Kippur und Pessach in die Synagoge. Und seit 15 Jahren engagiert sich die Fundación Judaica in Colonia Avigdor, die der bekannte argentinische Rabbiner Sergio Bergman leitet. »Unsere Stiftung will dem ganzen Dorf helfen und etwas von dem zurückgeben, was dieser Ort den Einwanderern gegeben hat«, sagt er. In Colonia Avigdor leben heute in erster Linie Nichtjuden, ein Teil kommt nur mit staatlicher Sozialhilfe über die Runden. Es fehlen Jobs, und immer noch wohnen einige Familien in Lehmhütten mit Strohdächern.

Zahnarzt In den Betrieben der Judaica-Stiftung – ein Milchkuhbetrieb, eine Käserei und ein Hotel – arbeiten inzwischen rund 20 Dorfbewohner, ihre Familien haben ein Einkommen. Die Fundación schickt regelmäßig Zahn- und Augenärzte nach Colonia Avigdor, und sie hat einen Sportklub für die Kleinsten gegründet.

Aber die Stiftung veranstaltet auch Ferienlager für Kinder und Jugendliche aus Buenos Aires. »Damit unsere jungen Leute die Arbeit auf dem Land, die Geschichte der Schoa und der Immigranten kennenlernen«, sagt Rabbiner Bergman. Er würde in Colonia Avigdor gerne ein Museum der deutsch-jüdischen Einwanderung einrichten, aber es fehlen die Mittel. Für Bergman sind die jüdischen Gauchos Vorbilder: »Die perfekte Verschmelzung von argentinischer und jüdischer Identität.«

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