Wie in beinahe jeder orthodoxen Gemeinschaft sind auch Chicagos strenggläubige Gemeinden besonders stark vom Covid-19-Virus betroffen. Die Metropole am Lake Michigan ächzt unter der zweiten Welle, ohne dass die erste je richtig abgeebbt wäre.
Wenn Rabbi Ariel Marinelli sich auf den Korridoren des großen Vorstadt-Krankenhauses in Chicago durch die stetig wachsende Zahl von Covid-19-Patienten den Weg bahnen muss, hat er Angst. Der 37-jährige orthodoxe Rabbiner ist wieder zurück an der pandemischen Front, er ist jüdischer Seelsorger am NorthShore University HealthSystem. »Es sieht genauso aus wie im Frühjahr«, sagte Marinelli dem »Forward«.
Rund 10.000 neue Erkrankungen an einem Tag – bei etwa jedem 18. Einwohner der Stadt wurde in der Vorwoche Corona diagnostiziert. Für Marinelli bedeutet das die Rückkehr zu einer vertrauten, wenn auch furchterregenden Routine. Da Familienmitglieder von Covid-19-Patienten die Krankenhäuser generell n icht mehr betreten dürfen, heißt es auch für den Rabbiner: direkter Kontakt verboten. Marinelli muss die Krankenzimmer meiden.
BEISTAND Gemeinhin kann ein geistlicher Beistand, egal welcher Religion, am Bett des Patienten stehen und ihn mit Gebeten oder Zuspruch unterstützen. »Im Moment allerdings fühle ich mich komplett hilflos«, so der Rabbi zum »Forward«. »Ich kann nicht da sein für sie und ihre Hände halten, den Patienten und auch deren Angehörigen erschwert das die Situation noch einmal erheblich.«
Rabbiner müssen ihre Patienten den letzten Weg zumindest ohne physische Präsenz gehen lassen.
So müssen Rabbiner wie Marinelli ihre Patienten den letzten Weg zumindest ohne physische Präsenz gehen lassen. Das führt dann zu absurden Situationen, wenn die Familien an den Rabbiner herantreten, damit er das Viddui, das Sündenbekenntnis, spricht. Der Rabbi steht vor der Tür, im Krankenzimmer filmt ihn eine Krankenschwester per Videotelefonat beim Gebet, damit die Familie sehen kann, dass gebetet wird.
Als Rabbi Lizzi Heydemann und ihre Kollegen sich Anfang November in einem Hinterhof trafen, um gemeinsam zu singen, wussten sie, dass es auf absehbare Zeit wohl das letzte Mal sein würde. Also beschloss das Team bei Mishkan, einer überkonfessionellen Gemeinde, die Heydemann führt, der Kälte zu trotzen und Dutzende Schabbat-Lieder aufzunehmen. Heydemann sagte der »Jewish Telegraphic Agency« (JTA), sie hoffe, »dass die Lieder und die virtuellen Gottesdienste uns den Winter über warmhalten werden«, wenn der Schabbat allein zu Hause verbracht werden muss.
vorstädte Die Lage in Chicago ist schon schlimm genug – noch schlimmer ist sie in den nördlichen Vorstädten, wo rund 30.000 Juden leben. Die Situation erinnert an die dunkelsten Tage des vergangenen Frühjahrs in New York, dem größten Siedlungsbereich amerikanischer Juden.
»Diese zweite Welle lässt uns all das Furchtbare erfahren, was wir zu Pessach aus New York hörten«, sagt Shaanan Gelman, Rabbi der Kehilat Chovevei Tzion in Skokie und Präsident des Chicago Rabbinical Council, einer lokalen orthodoxen Rabbinervereinigung.
Die Versuche, Corona-Fälle in der orthodoxen Bevölkerung zurückzuverfolgen, wird durch permanent neue Fälle erschwert. So sind Gemeinden jetzt dazu übergegangen, auf Pop-up-Events, ambulanten Veranstaltungen überall im Verbreitungsgebiet, Corona-Schnelltests zu machen.
Bei etwa jedem 18. Einwohner der Stadt wurde in der Vorwoche Corona diagnostiziert.
Allerdings sind die lokalen jüdischen Schulen nach wie vor geöffnet. Deren Maßnahmen, Infektionen auf dem jeweiligen Schulgelände zu vermeiden, scheinen zwar zu greifen, doch die Schüler stecken sich anderweitig an.
schulen »Die Schulen und Vorschulen wieder zu öffnen, war eine wichtige Maßnahme«, sagte Addie Goodman, Präsident des Jewish Community Center Chicago, der JTA. »Wir sind zuversichtlich, dass wir im schulischen Umfeld die Lage im Griff haben.
Diese Zuversicht, die viele jüdische Organisationen in Chicago verbreiten, mag im großen Pandemie-Bild leichtfertig erscheinen. Sie liegt aber in lokalen Erfolgen aus dem Sommer und Herbst begründet. »Wir mussten keine einzige unserer Synagogen oder Schulen wegen irgendeines zweiten Falles schließen«, sagt Ben Katz, Professor für Pädiatrie an der Northwestern University Feinberg School of Medicine und Experte für Infektionskrankheiten.
Katz bezieht sich dabei auf die Schulen und Synagogen in Chicago und Umgebung, die er beraten hatte, wie sie ihren Betrieb während der Pandemie sicher gestalten könnten.
quarantäne Es gibt noch einige weitere positive Beispiele von Schulen mit geringem bis keinem Infektionsvorkommen, doch scheinen Glück und Effizienz allmählich aufgebraucht in Chicago. An der »Joan Dachs Bais Yaakov – Yeshivas Tiferes Tzvi«, einer orthodoxen Mädchenschule mit mehr als 1000 Schülerinnen, wurden in der vergangenen Woche mehr als 50 Schülerinnen und Mitarbeiter in Quarantäne geschickt, nachdem sie positiv getestet worden waren. Daraufhin wurden weitere 360 Schülerinnen, die Kontakt zu den Infizierten hatten, per Rundbrief an die Eltern in häusliche Isolierung geschickt.
Trotz aller Vorsichts- und Schutzmaßnahmen konnte die Schule nicht verhindern, dass sich die Kinder anderswo ansteckten, wo es laxe Verhaltensregeln gibt. Das Wort, dass dabei immer wieder fällt, heißt Jeschiwa. Wie in New York oder Bnei Brak in Israel sind auch in Chicago die Jeschiwot potenzielle Superspreader.
Der Gouverneur von Illinois hat den religiösen Einrichtungen im Staat dringend nahegelegt, wieder zum virtuellen Gottesdienst zurückzukehren.
»Es gibt so viele Fälle, wir wissen gar nicht mehr, woher eine Infektion jetzt genau kommt«, sagt die Sozialarbeiterin Manya Treece, die ein Tracing-Projekt entwickelt hat, um speziell im Umfeld der Orthodoxie Covid-19-Fälle anonym rückverfolgen zu können. »Es sieht so aus, als sei das Virus buchstäblich überall.«
vorbehalte Während innerhalb charedischer Gemeinschaften in New York der Irrglaube, eine Herdenimmunität mache das Maskentragen überflüssig, die Lage noch verschlimmerte, waren in Chicago bisher die Vorbehalte gegenüber den Masken nicht so verbreitet. Doch das ändert sich.
Auch Ben Katz hat das schon mitbekommen. Er habe davon gehört, bestätigt der Mediziner, dass Ärzte außerhalb der lokalen Gemeinschaft die Wirksamkeit von Masken und Abstand bezweifelten. »Wenn zwei Ärzte unterschiedliche Dinge sagen, macht es das für Laien nicht einfacher.
Der Gouverneur von Illinois hat den religiösen Einrichtungen im Staat dringend nahegelegt, wieder zum virtuellen Gottesdienst zurückzukehren. Und für Gary Slutkin, Epidemiologe aus Chicago, der für die Weltgesundheitsorganisation WHO mehr als zehn Jahre in Afrika gegen Aids gekämpft hat, ist der Zeitpunkt, mit religiösen Treffen aufzuhören, »genau jetzt« gekommen. Wenn ihn ein Rabbiner um Rat fragen würde, ob man sich weiter in der Synagoge treffen solle, wäre seine Antwort. »Hör auf damit! Bitte, hör auf!«