»Ich hätte mein Sargenes gerne in Grün. Weiß macht so bleich.« Das sagt Käthi und verzieht dabei keine Miene. Sie konzentriert sich auf das dreieckige, weiße Stück Stoff in ihren Händen und auf die Nadel, die sie hin und her zieht. Aber Käthi ist sich bewusst, dass auch sie einmal, wenn sie von dieser Erde gehen muss, in dieses weiße Ganze gehüllt wird, wie es die jüdische Tradition verlangt.
Die Frau Ende 70 denkt nicht über ihr letztes Hemd nach, viel lieber näht sie das Sargenes, wie man auf Jiddisch sagt, für andere. Zusammen mit acht bis zwölf weiteren Frauen, Woche für Woche. Jede von ihnen weiß genau, was zu tun ist. Die eine näht das Oberhemd, die andere das Unterhemd. Eine dritte befestigt die Spitzen daran. Und Käthi näht die »Dreieckstücher, die der Verstorbenen auf das Gesicht gelegt werden«.
Lust am Nähen entdeckt
Seit bald 30 Jahren trifft sie sich jeden Dienstagnachmittag mit den anderen Frauen im ersten Stock des Gemeindezentrums der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) zum Sargenesnähen. So auch Jeannette, die dienstags eigens eine Stunde mit dem Zug anreist, um nach Zürich zu kommen. »Früher war mir das Nähen verhasst«, erinnert sie sich. Aber irgendwann konnte sie sich mit dieser Tätigkeit anfreunden, die ihr, wie sie sagt, »eigentlich sehr vertraut war, weil mein Vater Schneider gewesen ist«.
Hat sie Faden und Nadel also doch in den Genen? Jeannette winkt ab: »Mitnichten. Am Anfang wusste auch ich noch nicht, wie diese einzelnen Stücke richtig zusammengenäht werden.« In der Tat habe sie einmal einen Saum komplett falsch genäht. »Aber das war nicht weiter schlimm. Die Kundin hat sich jedenfalls nicht beklagt«, sagt die 90-Jährige und näht mit eleganten Bewegungen munter weiter. Jeannette gehe es, wie sie erzählt, vor allem um die alten Freundschaften, die über diesen wöchentlichen Treff wieder zum Leben erweckt wurden.
Der soziale Aspekt dieser Tätigkeit steht bei den meisten Frauen im Vordergrund. So wollte es auch ursprünglich der Israelitische Frauenverein Zürich, der das Nähen zusammen mit der Tahara, der rituellen Waschung nach dem Tod einer Person, das Einkleiden in Sargenes und das Einsargen bis heute organisiert. Alle Frauen, die in dieser Frauen-Chewra tätig sind, tun dies ehrenamtlich. Sie begleiten die weiblichen Trauernden auf dem Friedhof und versuchen, die Hinterbliebenen zu trösten.
»Manchen geht es bei den Treffen vor allem darum, alte Freundschaften zu pflegen.«
Die Aufgabe geht auf eine jahrzehntelange Tradition zurück und galt früher in allen jüdischen Gemeinden als noble Beschäftigung der Frauen. »Die Mitarbeit in einem Frauenverein war für jüdische Frauen oft die einzige Gelegenheit, sich für die Gemeinde einzusetzen. Später wurde das Sargenesnähen zu einem festen Termin für Frauen, die nach ihrer Pensionierung vielleicht nicht mehr so viele Kontakte wie zuvor im Arbeitsleben hatten. Heute hat sich natürlich alles ein wenig geändert«, sagt Monica Zielinsky.
Sie koordiniert das regelmäßige Nähen und ist die Schnittstelle zwischen dem Frauenverein und den Näherinnen. Es sei nicht einfach, Nachwuchs für diese Arbeit zu finden, sagt sie. Viele junge Frauen hätten keine Freude mehr am Nähen. Außerdem würde vielen die Zeit neben Familie und Beruf fehlen. »Aber der persönliche Austausch ist für uns nach wie vor das Wichtigste«, findet sie. So werde auch für kleinere Gemeinden in der Umgebung genäht, jedoch auch da ausschließlich für weibliche Verstorbene. »Die Gewänder für die Männer werden in einem Gefängnis unweit von Zürich hergestellt«, sagt Zielinksy.
Dann geht die Frau mit den langen grauen Haaren und der modernen roten Brille, die selbst schon seit zehn Jahren zum festen Kern dieser Gruppe gehört, zum Schrank und zeigt auf die gestapelten Pakete darin: »Hier kommen die Sargenes hinein, wenn sie fertig sind. Wir haben einiges an Vorrat. Die Leute sterben uns nicht so schnell weg«, sagt sie mit einem Augenzwinkern. Tatsächlich sei man vor ein paar Jahren in der Pandemie von überraschend vielen Todesfällen ausgegangen. Aber dies sei zum Glück nicht eingetreten.
Gerüchte, Enkel und Politik
Monica Zielinksy nimmt ein Paket aus dem Schrank und öffnet es, um zu zeigen, was ein Set alles umfasst. Es sind sieben Einzelteile, die auf die letzte Reise angezogen und mitgegeben werden: Oberhemd, Unterhemd, Kopfhaube, Schuhe, Gesichtstuch, Dreieckstuch und ein kleines Stoffkissen mit Erde aus Israel. »So will es die Halacha. Das sind die Dinge, die sich wohl nie ändern werden.« Genauso wenig wie der Tod. Aber der ist mit keinem Sterbenswort Thema bei den zehn Frauen, die sich an diesem sonnigen Nachmittag im Gemeindehaus getroffen haben.
Rina, eine pensionierte Apothekerin, die »erst seit knapp sieben Jahren dabei ist«, wie sie sagt, fragt nach Kaffee und verteilt Kekse und Trauben. Es werden die neuesten Gerüchte ausgetauscht, man spricht über Enkel, diskutiert über die israelische Kriegspolitik. Die Stimmung ist heiter, »weshalb sollte sie auch anders sein«, findet Helise. Sie habe schon ein paar Frauen kommen und gehen sehen. »Wenn jemand zu uns kommt und findet, die Arbeit sei zu wenig intellektuell oder gar makaber, dann brauchen wir diese Frau hier nicht. Es ist eine schöne Arbeit – und für mich ein guter Fingersport. Der Arzt ist sehr zufrieden mit mir«, resümiert die ältere Frau mit dem wachen Blick.
»So viel Leben beim Thema Tod. Für die Damenrunde ist das nichts Besonderes.«
Monica Zielinksy stimmt ihr zu. Die Arbeit tue auf allen Ebenen gut, selbst wenn die Verstorbene nichts mehr davon habe. »Dafür aber wir.« Sie geht zum großen Tisch ganz vorn im Raum und reißt ein neues Stück Stoff auseinander. Alles aus reinem Leinen, das eigens dafür in Italien bestellt wird. Das Garn, mit dem genäht wird, besteht aus Baumwolle. Es darf kein Mischgewebe sein. Auch das ist halachisch vorgegeben. Was allerdings nicht in den heiligen Schriften festgelegt wird, ist, wer das letzte Hemd anfertigt und in welchem Umfang.
»Heute arbeiten wir vielleicht etwas schneller als die Frauen früher, aber wir machen nach wie vor alles in Handarbeit.« Wie viel Zeit braucht es, ein ganzes Set mit all seinen Einzelteilen zu nähen? »Das kommt darauf an, wie viel wir plaudern«, ruft Helise in die Runde. Die anderen Frauen lachen. Aber niemand soll ein schlechtes Gewissen haben, der nette Schwatz sei schließlich erwünscht. Dann kehrt vorübergehend wieder etwas Ruhe ein.
Die charmanten älteren Frauen – die jüngste ist 69, die älteste 90 Jahre – beweisen genau das, was von modernen Menschen offenbar immer erwartet wird. »Wir sind multifunktional. Und eine WhatsApp-Gruppe haben wir natürlich auch«, wirft Evelyne von ganz vorn in die Runde. Hin und wieder unternehme die Gruppe auch einen privaten Ausflug und gehe zusammen essen. So viel Leben beim Thema Tod. Für die Damenrunde ist das nichts Besonderes. Alle haben sie ihre Schicksalsschläge erlebt, geliebte Menschen verloren.
Alles muss sich auflösen können
Die jüdische Religion bejaht das Leben als höchsten Wert, markiert aber auch den Tod im Laufe des Lebens. Er gehört dazu, so auch das Sargenes, das keine Nähte und keine Knöpfe haben darf. Monica Zielinksy erklärt: »Es muss sich alles einmal auflösen, sollte doch der Maschiach eines Tages kommen. Das Sargenes darf den sich erhebenden Seelen nicht im Wege stehen.«
Der Moment, wo sich Zeit und Raum auflösen, scheint noch weit weg zu sein. Pünktlich gegen 15 Uhr 30 erheben sich anstelle der Seelen jung gebliebene Frauen, die langsam ihren Heimweg antreten. Bis sie sich eine Woche später wieder am selben Ort um dieselbe Zeit treffen. Um miteinander zu nähen und sich übers Leben auszutauschen.