Wenn Ruben van Coevorden über die Schwelle des roten Backsteinhauses tritt, wird er zu einem Arzt ohne Patienten. Die gibt es hier nämlich nicht – nur Bewohner, darauf legt man Wert. Und genau darum trägt van Coevorden, ein Mann in den Sechzigern mit ruhiger Stimme und freundlichen Augen, auch keinen weißen Kittel. Und noch etwas tut er, das für einen Arzt ziemlich ungewöhnlich ist: Er streicht die Medikamentenlisten der Bewohner auf ein Minimum zusammen. »Blutdruckmittel braucht hier niemand mehr«, sagt er.
Das rote Backsteinhaus heißt »Hospice Immanuel« und liegt am Rand von Amsterdam. Draußen führt eine viel befahrene Straße vorbei. Hinter der Tür des einzigen jüdischen Hospizes in Europa dagegen liegt die Ruhe eines Ortes, wo eine Reihe ganz anderer Wege zu Ende gehen. Niederschmetternd ist sie nicht, diese Ruhe, und auch nicht bedrückend. Eher mutet sie gelassen an. Zwei Dinge im Leben, sagt Ruben van Coevorden, sind gewiss: die Steuer und der Tod. Bevor die Bewohner gehen, sollen sie es im Hospice so angenehm wie möglich haben. Schließlich sei dies kein Krankenhaus, sondern ein Zuhause.
Trauern Ehe das Hospiz im Frühjahr 2007 eröffnet wurde, mussten sich erst Ruben van Coevorden und Sasja Martel finden. Der Hausarzt, spezialisiert auf Palliativmedizin, hatte bereits eine Anlaufstelle gegründet, wo Kollegen und Krankenschwestern sich Rat holen konnten. Sein Wunsch, in einem Hospiz zu arbeiten, nahm über die Jahre immer mehr Formen an. Genauso ging es der Judaistin Sasja Martel, die kurz zuvor ein Buch über Sterben und Trauern aus jüdischer Perspektive geschrieben hatte. Stark wie der Tod war der Titel. Für das Hospiz, das sie gründen wollte, brauchte sie einen Arzt. Wem auch immer sie davon erzählte, jeder empfahl ihr Ruben van Coevorden.
»Das Hospice Immanuel«, sagt Sasja Martel (58), »entstand nicht aus Furcht, sondern aus unserem Traum heraus.« Dass sie einander brauchten, um ihn zu verwirklichen, amüsiert die beiden Gründer. »Wir sind wirklich kein Paar«, versichern beide mit einem Grinsen – ein Bild, das symptomatisch ist für das ganze Haus: Es wird viel gelacht im Hospiz. Man findet Leichtigkeit hier angesichts des Schwersten, ganz wie Sasja Martel im Vorwort ihres Buches schreibt: Gemäß der jüdischen Tradition geht es hier nicht um Begleitung beim Sterben, sondern um Hilfe beim Leben: »Vier simches, de tsores komen vanzelf.« Dieser niederländisch-jiddische Leitspruch steht an der Wand des Büros: »Feier die Freuden, die Sorgen kommen von allein.«
Für die Freude stehen hier die Blumen, die jeden Freitag im ganzen Gebäude frisch verteilt werden. Oder die Wände der Zimmer, die in starken Farben leuchten, um ihre Bewohner, die oft vom fortgeschrittenen Krebs, von Herz- oder Lungenversagen gezeichnet sind, weniger blass erscheinen zu lassen. Die Sitzecken im Gemeinschaftsraum sind in Grün, Gelb, Rot und Orange gehalten, der Wintergarten gibt durch hohe Fenster den Blick in den Garten frei. Nach Krankenhaus riecht es hier nicht. Im Gegenteil: Aromatherapie stimuliert die Sinne der Bewohner – oder überlagert, wenn nötig, den Geruch ihrer Wunden.
Die Quelle, aus der sich all dies speist, ist das Leitmotiv des Hospice Immanuel: Neschome, das jiddische Wort für Seele. »Seine Seele in alles legen, was man tut«, erläutert Sasja Martel das Konzept. »Ein Ei zum Beispiel kommt hier nicht einfach auf einen Teller, sondern in eine schöne Glasschüssel.«
joint Doch die Wege, die die Mitarbeiter dafür gehen, können durchaus noch länger sein. Sasja Martel erzählt von einem der 80 Freiwilligen, der einem Bewohner gern zu einem Joint verhelfen wollte, um dessen Schmerzen zu lindern. Also betrat er, selbst nicht mehr der Jüngste, zum ersten Mal in seinem Leben einen Coffeeshop und erstand ein Klümpchen Haschisch.
»Alle hier sind ständig für uns bereit«, so fasst es Meneer Van Vliet zusammen, dessen Frau schon eine ganze Weile ein Zimmer im ersten Sock bewohnt. Sohn und Schwiegertochter, die neben dem Bett stehen, pflichten ihm bei, und auch Mevrouw Van Vliet hebt den Kopf, nickt zustimmend und lächelt schwach.
Sasja Martel setzt ihre Runde durchs Haus fort. Durch eine offene Tür fällt der Blick auf einen alten schlafenden Mann mit langem grauen Haar. Im Flur ist es ruhig, aus einem Zimmer dringt der Fernsehkommentar eines Fußballspiels.
Gerade die Flure verraten ein paar wesentliche Dinge über diesen Ort. Unten am Eingang hängt ein Zertifikat des Institute for Science and Halacha in Jerusalem. Darauf bestätigt dessen Leiter, Rabbi Levy Yitzhak Halperin, das Hospiz sei gemäß halachischer Kriterien geplant und gebaut.
Im ersten Stock dagegen befindet sich in einer Ecke die nichtkoschere Bewohnerküche, in der man sich sogar zu Pessach ein Sandwich machen kann. »Die meisten hier essen nicht koscher«, erklärt Sasja Martel und fügt an, dass man im Vorstand lange darüber diskutiert habe. Und als wolle sie keine Missverständnisse aufkommen lassen, zeigt sie, dass Milch- und Fleischküche, in denen das Personal die Hauptmahlzeiten zubereitet, durch eine Mauer getrennt sind,
Das Halacha-Zertifikat und die nicht koschere Küche sind keinesfalls Widersprüche. Es sind die Eckpfeiler eines Hauses, das orthodoxe Bewohner ebenso willkommen heißt wie solche, die sich kaum als traditionell bezeichnen würden. »Wir bieten alle Möglichkeiten, ohne jemandem etwas aufzudrängen«, sagt Sasja Martel. Eine Mesusa an jeder Tür, Menorot im Gemeinschaftsraum, das festliche Erleben der jüdischen Feiertage gehören dazu, ebenso wie Kiddusch, weiße Tischdecken am Schabbat – »und reichlich Hühnersuppe«. Viele Bewohner erinnert dies an ihre Kindheit. »Deshalb hören wir oft, dass sie sich hier fühlten, als kämen sie nach Hause.«
Belegung Nicht nur Juden stehen die Türen des Hospizes offen. Es war der Rat eines Rabbiners, der die Gründer in dieser Idee bestärkte. Allerdings wird das letzte der sieben Zimmer frei gehalten, um im Notfall einen sterbenskranken Juden nicht enttäuschen zu müssen. John Könst, der gerade die erste Nacht in seinem Zimmer im ersten Stock verbracht hat, ist nicht jüdisch – wohl aber einer der Amsterdamer, die mit den jüdischen Bewohnern und Institutionen ihrer Stadt in Kontakt kamen. »Meine Mandeln habe ich mir damals auch im jüdischen Krankenhaus entfernen lassen«, sagt er und lacht.
John Könst ist um die 60. Früher war er bei der Post für die Qualitätssicherung zuständig. Sein Partner Karel Leber sitzt an seinem Bett und reicht ihm eine Tasse Kaffee. Sein Hausarzt habe ihm das Hospiz empfohlen, sagt Könst mit sanfter Stimme. Die ambulante Pflege war nicht immer verfügbar, um seinem Bedarf gerecht zu werden. Es scheint eine richtige Entscheidung gewesen zu sein. »Hier gibt es tags und nachts fachkundige Hilfe. Und außerdem sind sie sehr lieb. Sie tun alles für mich.«
Besonderes Augenmerk legen die Mitarbeiter auf die jüdische Hauptzielgruppe der Schoa-Überlebenden. »Viele sind harte Kämpfer, denen es schwerfällt loszulassen. Dabei versuchen wir zu helfen«, erläutert Ruben van Coevorden, selbst ein Kind der Zweiten Generation. »Es braucht dazu besonderes Verständnis für ihre Traumata.« Viele von ihnen tragen noch immer die eintätowierte Nummer auf dem Arm. »Weil wir verhindern wollen, dass sie sich noch einmal als Nummer fühlen, haben wir die Zimmer nicht nummeriert, sondern ihnen hebräische Pflanzennamen gegeben.
Fragt man Ruben van Coevorden, was ihm das Hospiz bedeutet, greift er nach Worten, die groß sind und doch ganz selbstverständlich klingen. »Glücklich« sei er, »als Arzt hier vom jüdischen Standpunkt ausgehen zu können, das Leben zu feiern.«
Für heute ist der Doktor ohne Patienten fertig im Hospiz. Trotzdem ist er bis zum nächsten Tag auf einem speziellen Mobiltelefon erreichbar. Er verabschiedet sich von Sasja Martel im Büro und geht zur Tür, vorbei an der Schale mit den Steinen im Foyer. Die Steine tragen Schriftzüge in Rot, Blau und Grün: »Kraft« steht darauf, »Wärme«, »Liebe« – und »Neschome«.
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