Herr Prasquier, die Zahl antisemitischer Vorfälle in Frankreich ist seit Anfang des Jahres stark gestiegen. Ist unter diesen Umständen noch jüdisches Leben möglich?
Nach dem Terroranschlag von Toulouse im März nahm die Zahl der Vorfälle um das Dreifache zu. Danach sank sie wieder auf Vorjahresniveau. Das heißt: Ein schrecklicher Angriff, bei dem Kinder ermordet wurden, wirkte als Vorbild. Das ist beunruhigend, denn es zeigt, dass manche in dem Mörder einen Helden sehen, dem sie nacheifern.
Die meisten Täter sind junge Männer, die auf französische Schulen gegangen sind. Hat das Bildungssystem versagt?
Es wäre unfair, allein die Schulen dafür verantwortlich zu machen. Aber fest steht, dass das Bildungssystem nicht zufriedenstellend auf Jugendliche reagiert, die islamisch radikalisiert werden und Gefahr laufen, straffällig zu werden. Man muss den Unterricht so gestalten, dass er die Schüler gegen die Botschaften der Hassprediger wappnet. Das ist nicht leicht, besonders in Stadtteilen mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil. In vielen dieser Viertel wird mit Drogen gehandelt. Da ist es schwierig, die Jugendlichen zum Schulbesuch anzuhalten, wenn sie doch sehen, dass sie mit dem Drogenhandel weit mehr verdienen als mit einem Schulabschluss.
Welchen Einfluss hat die Wirtschaftskrise auf den wachsenden Antisemitismus?
Es gibt einen Einfluss, aber die Krise erklärt nicht alles. Ein weitaus wichtigerer Faktor ist die Tatsache, dass diese Menschen die Integrationstests nicht bestanden haben.
Diskutieren Sie mit führenden Muslimen darüber, wie man diese jungen Männer erreichen kann?
Der Einfluss führender muslimischer Vertreter auf die Community ist sehr begrenzt. Viele der Moscheen, in denen radikale Lehren verbreitet werden, stehen außerhalb des Systems. Und etliche dieser jungen Männer gehören überhaupt keiner Moschee oder Gemeinde an.
Der Antisemitismus hat nicht nur zugenommen, sondern ist auch brutaler geworden.
Die gesamte Gesellschaft ist brutaler geworden. Das hat nichts mit Antisemitismus zu tun, sondern mit der Art, wie sich diese radikalisierten jungen Männer verhalten.
Was kann man da noch tun?
Wir informieren natürlich die staatlichen Behörden. Sie müssen der gesamten Gesellschaft vor Augen halten, was auf dem Spiel steht. Es geht nicht nur um das Schicksal unserer jüdischen Gemeinschaft, sondern um die Zukunft des ganzen Landes. Es handelt sich hier nicht um einen Kampf zwischen Juden und Muslimen, sondern es geht um die Frage, was für eine Gesellschaft wir wollen: eine, die auf der Scharia basiert, oder eine, die auf demokratischen Prinzipien begründet ist.
Mit dem Präsidenten der französisch-jüdischen Dachorganisation CRIF sprach Tobias Kühn.