Sigmund Freud (1856-1939) ist bis heute ein entscheidender Referenzpunkt, wenn es um die menschliche Seele geht. Der Wissenschaftler und Nervenarzt stellte komplexe Phänomene in anschaulichen Bildern dar und entwickelte Methoden, die eine Grundlage vieler Therapien bleiben. Er begründete die moderne Psychoanalyse - wörtlich übersetzt: »Untersuchung der Seele«.
Zu Freuds bekanntesten Modellen gehört die Strukturierung der Psyche in drei Instanzen: das Es, das Ich und das Über-Ich. Dies beschrieb er in einer Schrift, die vor genau 100 Jahren erschien, am 27. April 1923 - Titel: »Das Ich und das Es«.
Drei Instanzen Spätestens seit dem Vorjahr hatte sich Freud mit dieser Thematik befasst, und er sollte sie während der 30er Jahre weiter aus- und überarbeiten. Seine grobe Unterteilung der Psyche in die drei Instanzen blieb jedoch bestehen.
Von der Außenwelt abgeschnitten ist demnach das Es, das - dem Lustprinzip folgend - die organischen Triebe umfasst, die auf Befriedigung drängen. Im Zusammenspiel von Es und Außenwelt entsteht wiederum das Ich, das sich auf das Denken stützt. Herausgefordert ist das Ich nicht allein davon, einen Ausgleich zwischen den Begehrlichkeiten des Es und den Möglichkeiten der Außenwelt zu schaffen. Sondern auch durch das Über-Ich: Diese Instanz, auch »Ich-Ideal« genannt, entwickelt sich laut Freud durch die Identifizierung mit den Eltern, fungiert also als eine Art Gewissen und weist das Ich auf Fehltritte hin.
Das Modell basiert auf Freuds Grundannahme, dass die Psyche aus zwei Teilbereichen besteht: dem Verdrängenden und dem Verdrängten. Das Verdrängte - Teile des Es - will wahrgenommen werden und konkrete Wirkung erzielen. Dafür nutzt es das Über-Ich als eine Art Fürsprecher der Innenwelt. Das Es wirkt also auf zweierlei Weise auf das Ich: einerseits unmittelbar über die Triebe, andererseits über das Ich-Ideal. Das Ich steht damit unter dreifachem Einfluss: der Außenwelt, des lustgesteuerten Es und des strengen Über-Ichs. Freud nennt das Ich die »eigentliche Angststätte«.
Innerer Kritiker Denn die beschriebenen Prozesse vollziehen sich zumeist unbewusst - und sie können zu Problemen führen. Zum Beispiel dann, wenn das Über-Ich für Schuldgefühle sorgt. Psychologinnen und Psychologen sprechen heute vom »inneren Kritiker«, der wie ein strenger Vater oder eine nörgelnde Mutter auftritt. In Therapien geht es vielfach darum, sich über diese Muster klarzuwerden - und in den konkreten Situationen aktiv wahrzunehmen, wie man reagiert. Erst nach diesen ersten Schritten werden allmählich Änderungen möglich. Auch in der Erziehung spielt die Frage, wie liebevoll oder kritisch mit dem Verhalten eines Kindes umgegangen wird, eine zentrale Rolle.
Freud befasste sich also durchaus mit großen Fragen der Menschheit - auch jener nach Schuld und Reue. Die Religion sah er allerdings höchst kritisch. Im Zusammenhang mit der Frage, warum Menschen an Gott glauben, las er religionskritische Schriften von Philosophen wie Karl Marx und Ludwig Feuerbach. Deren Gedanken griff er auf seine psychoanalytische Weise auf: Menschen, die einer Religion anhängen, seien im Grunde Kinder geblieben, die »wie ein Kind an seinem Vater hing, so dann an dem Gott hängen«, erklärte der Psychoanalytiker Herbert Will die Sichtweise Freuds einmal im Deutschlandfunk.
Aufgewachsen als Jude, der immer wieder auch Antisemitismus erlebte, brach Freud als Erwachsener mit den Riten dieser Religion. Er warb für eine humanistische Haltung: So sollten religiöse Gebote den Menschen nicht beherrschen, sondern dienten vielmehr seinem eigenen Interesse. Würde der Mensch zu diesen Regeln ein »freundliches Verhältnis« gewinnen, wäre dies »ein wichtiger Fortschritt«, schreibt Freud.
Nicht nur Widersprüche in seinem Werk sorgten schon zu seinen Lebzeiten für Kritik, sondern auch Aussagen Freuds zu sexualisierter Gewalt oder zu (vermeintlichen) psychischen Besonderheiten von Frauen. Viele von ihm geprägte Begriffe - etwa »Narzissmus« oder »Fixierung« - sind heute dennoch Allgemeingut. Ebenso bleibt die Frage, die ihn zeitlebens umtrieb, zeitlos: danach, wie Menschen werden, was sie sind.