Herr Friedlander, Sie nehmen gemeinsam mit Ihrem Sohn David an der Kampagne #OurHolocaustStory der Claims Conference teil. Weshalb haben Sie sich entschieden, mitzumachen?
Weil es wichtig ist, dass die Menschen nicht vergessen. Man kann nicht allein in der Vergangenheit verweilen, daher müssen wir der heutigen Generation erklären, warum es so bedeutsam ist, die Schrecken zu erkennen, die wir erleiden mussten. Und es gibt noch einen anderen Grund, warum ich teilnehme: Ich habe eine Erfahrung gemacht, die ich Ihnen kurz schildern möchte. Als ich mit einer Schulklasse der Jahrgangsstufen zehn und elf sprach – die Schülerinnen und Schüler waren also etwa 16 oder 17 Jahre alt –, fragte mich einer der Schüler, ob ich jemals versucht hätte, den deutschen Soldaten zu finden, der meine Mutter und mich entkommen ließ. Das war eine gute Frage. Und ich sagte ihm: »Nein, das habe ich tatsächlich nicht. Ich war neun Jahre alt und alles, was ich wollte, war, den nächsten Tag zu erleben.« Und es wäre wahrscheinlich auch wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen gewesen, diesen Soldaten zu finden.
Wie hat er reagiert?
Als die Sitzung zu Ende war, kam der Schüler auf mich zu und sagte zu mir: »Ich bin Deutscher.« Ich entgegnete ihm: »Na und? Du bist nicht verantwortlich dafür, was deine Vorfahren möglicherweise getan haben. Das Einzige, wofür du verantwortlich bist, ist dein Handeln.« Dieser hochgewachsene, gut aussehende Schüler fing an zu weinen und bedankte sich, umarmte mich. Es muss einen wunden Punkt bei ihm getroffen haben, denn drei Lehrer versuchten, ihn anschließend zu beruhigen. Was die Claims Conference macht, ist wunderbar, weil die Kampagne die Erinnerung wachhält. Man kann die Vergangenheit nicht reparieren, aber wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen ihre Handlungen verstehen und über ihren Tellerrand hinausschauen und die Augen öffnen.
David, Sie unterstützen Ihren Vater – was war für Sie der Beweggrund?
Wissen Sie, ich bin sehr stolz auf das, was Dad getan hat. Er hat den »Order of Australia« verliehen bekommen und engagiert sich für ein Miteinander. Und was mein Vater gesagt hat, ist wirklich sehr wichtig. Er hat lange gebraucht, um uns diese Geschichte zu erzählen, weil er nie zurückblicken wollte. Der einzige Grund, sich daran zu erinnern, ist, den Leuten etwas beibringen zu können. Dads Hauptthema ist: Kleine Akte der Diskriminierung oder des Rassismus mögen vielleicht unbedeutend scheinen, aber sobald man sie toleriert, werden sie akzeptiert, und dann wird die nächste Sache toleriert, danach die nächste Sache und so weiter. Was mein Vater in Australien seit etwa 30 Jahren mit verschiedenen Programmen getan hat, ist, jungen Kindern zu zeigen, dass der Holocaust ein Beispiel dafür ist, wie die Dinge aus dem Ruder laufen können: wie intelligente, respektable Menschen sehr seltsame Dinge tun können, wenn man zulässt, dass kleine Dinge akzeptabel werden.
Ernie, Sie sprechen regelmäßig über Ihre Vergangenheit. Ist das trotz allem schwierig für Sie?
Es wird jedes Mal emotional. Aber es ist nun einmal wichtig, den Leuten die Augen zu öffnen, ihnen diese Bedeutung zu erklären und die Menschen außerhalb der jüdischen Gemeinschaft dazu zu bringen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Die meisten Menschen sind anständig. Erst vor ein paar Tagen gab es einen Vorfall mit einem Lkw, der auf der Rückseite ein beleuchtetes Schild angebracht hatte, auf dem stand, dass die Juden für 9/11 verantwortlich seien. Und dieser Lkw fuhr durch Cairns in Queensland. Es gibt Gruppen, die die Vergangenheit dazu benutzen, um den Holocaust herunterzuspielen. Sie versuchen, den Hass zu rechtfertigen.
Ist es schwieriger geworden, den Menschen die Augen zu öffnen?
Nicht wirklich, denn wir werden von Institutionen und Politikern unterstützt. Es gibt hier und da ein paar wenige, die immer einmal wieder die Stimme erheben, um sich zu profilieren: Manchmal überreagiert man, manchmal unterreagiert man. Ich bin ja auch nicht perfekt und kann nicht erwarten, dass andere Menschen perfekt sind, aber der Mehrheit müssen Dinge nun einmal erklärt werden. Denn diese Menschen sind sehr selbstgefällig. Sie haben keine Zeit, wollen ihr Leben weiterführen, und manchmal lassen sie sich von dem beeinflussen, was sie lesen, weil es sensationslüstern ist und einige Medien darauf aufbauen: Ich denke, wir müssen ihnen mit proaktiven Programmen so weit wie möglich den Wind aus den Segeln nehmen.
David, wie nehmen Sie die Stimmung gerade jetzt in Australien wahr, in Bezug darauf, was Ihr Vater gesagt hat: Wie sieht es aus mit Aufklebern oder Flugblättern mit Beleidigungen oder Verschwörungstheorien?
Wissen Sie, ich sehe eher wenig, ich bin nicht so aufmerksam wie Dad. Ich bewege mich in Kreisen, die ziemlich gut ausgebildet sind, und es wäre dort einfach völlig inakzeptabel. Mein Vater sieht die Basis, er sieht mehr. Ich kann das schlecht beurteilen.
Ernie, wie erinnern Sie sich an die ersten Jahre?
Als ich zweieinhalb Jahre alt war, sind wir aus Wien weggegangen. Es war sehr schwer für meine Mutter, weil sie ihre Familie zurückgelassen hat. Ich lief so mit. Bis ich ungefähr sechs war, sind wir ein paar Mal nach Wien gereist. Bis dahin hatte ich also eine ziemlich solide Kindheit. Aber dann, eines Morgens, ich erinnere mich, kam meine Mutter aus ihrem Zimmer. Und ich habe sie fast nicht erkannt.
Was war geschehen?
Sie hatte erfahren, dass ihre Familie von Wien nach Lodz deportiert worden war. Ihr Haar wurde durch den Schock fast über Nacht weiß. Und sie hat sich nie wieder richtig erholt. 1944 wollte sich Ungarn aus dem Krieg zurückziehen, weil sie merkten, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Aber die ungarischen Nazis wollten das nicht. Also baten sie die deutsche Armee zu kommen, und dann wurde es schwierig und immer schlimmer. Wir mussten den gelben Stern tragen, es gab eine Ausgangssperre. Und dann sollten wir zu den Deportationszügen. Und nur dieser eine deutsche Soldat hatte Anstand, er hatte Mitgefühl. Meine Mutter sprach sehr schlecht Ungarisch, sie sprach Deutsch, so hat er sie erkannt. Wir waren schon über fünf Stunden gelaufen, als er wieder zu ihr kam.
Was passierte dann?
Meine Mutter forderte mich auf, mir die Schnürsenkel zu binden, und hielt mir die Hand auf den Mund. Auf ein Zeichen des Soldaten hin packte sie mich und rollte mich unbemerkt auf die Seite der Straße einen Abhang von etwa drei Metern hinunter. Wir wurden später aufgegriffen, kamen sieben Wochen in ein Ghetto, bis wir befreit wurden. Meine Mutter wurde depressiv nach alldem. Also musste ich schnell erwachsen werden, musste mein Leben meistern, und dann gingen wir nach Australien. Es war der am weitesten entfernte Ort, und wir wollten auf diese Weise den Schrecken der Vergangenheit entfliehen.
Wie erinnern Sie sich persönlich an diese Reise?
Wir waren vier Wochen lang auf dem Schiff. Meine Mutter hatte einen Cousin, der eigentlich viel jünger war als sie. Sie hat sich um ihn gekümmert, als er ein Kind war, weil seine Eltern gearbeitet haben. Sie hatten einen Lebensmittelladen in Wien. Und er hat uns nach Australien geholt, weil er 1938 zuerst nach Shanghai gegangen war. Wir waren ziemlich durcheinander, aber wir mussten weitermachen. Ich hatte großes Glück. Ich habe eine sehr gute Partnerin gefunden, meine Frau, und wir haben ein gemeinsames Leben aufgebaut.
Ihre Frau hat in einem Fernsehinterview einmal gesagt, dass Sie die Welt verändern wollten, aber leider erst vor 25 Jahren damit angefangen haben.
(lacht) Genau, es ging übrigens in dieser Sendung um Menschen, die einen Unterschied gemacht haben. Für mich war das dieser Soldat. Ich bin ihm sehr dankbar. Ich kann ihm nicht genug danken. Ich weiß es zu schätzen. Und – auch das möchte ich sagen – ich bin Australien dankbar, dass dieses Land mir eine Chance gegeben hat, mich selbst zu finden.
Wie war Australien Anfang der 50er-Jahre, als Sie ins Land kamen? Wussten die Leute, was geschehen war?
Nun, es gab nicht gerade sehr viel Mitgefühl. Die australisch-jüdische Gemeinschaft war ziemlich gespalten, was unsere Aufnahme betraf.
Weshalb?
Weil fast alle sehr anglikanisch geprägt und englisch orientiert waren und uns vielleicht bis zu einem gewissen Grad als Eindringlinge ansahen. Aber ich will nicht verallgemeinern. Es gab auch einige Vorbehalte gegenüber der Gründung des Staates Israel. In einer der Synagogen sprach sich der Rabbiner dagegen aus, weil es Terrorismus gab, der wahrgenommen wurde. Es gibt keine Freiheitskämpfer. Es war nicht leicht, sich anzupassen, was Sprache und Kultur angeht. Ich erinnere mich, dass wir zuerst in Fremantle waren und Leute mit Handschuhen und Hüten auf der Straße sahen – im Dezember, im Hochsommer! Alles war so anders als das, was wir in Europa gesehen hatten, und wir mussten dazulernen.
David, sind Sie auf Ihren Vater zugegangen und haben ihn nach seiner Geschichte gefragt, oder hat er Ihnen davon erzählt?
Wissen Sie, der Mann, den Sie im Video zur Kampagne gesehen haben, ist ein sehr ernster. Aber eigentlich ist er so lustig, Dad schaut auf die positiven Seiten. Wir hatten eine tolle Kindheit, alles hat Spaß gemacht. Wir leben in einem wundervollen Land, sind von Stränden umgeben, wir gingen zur Schule, spielten Cricket, gingen an den Strand: Wir haben einfach Glück. Aber auch deswegen, weil mein Vater so ist, wie er ist. Er hat erst in seinen späten 40ern – Dad, so war es, stimmt’s? – angefangen, über die Vergangenheit zu sprechen.
Ernie: 1992 war das. Ich wollte das gar nicht, aber meine Frau überzeugte mich, das Spielberg-Video zu machen. David war zu diesem Zeitpunkt nicht dabei, aber meine beiden Töchter und meine Frau waren vor Ort. Es war sehr emotional, aber für mich war es ein bisschen ein Weckruf, und seitdem bin ich ein Aktivist. Eigentlich ist also meine Frau schuld, dass ich erzähle (lacht).
Ernie, Sie haben »Moving Forward Together« ins Leben gerufen.
Ich muss zunächst sagen, dass ich schon immer engagiert war: in der jüdischen Jugendbewegung, später beim JNF, ich war B’nai-B’rith-Präsident von New South Wales. Und dann kam »Moving Forward Together«. Wir fingen mit einem »Harmony Day«-Poster-Wettbewerb an – und das wurde ein voller Erfolg. Wir erhielten, vornehmlich aus Grundschulen, bis zu 6000 Poster von Schülerinnen und Schülern. Sie machen Poster, die nicht nur Kunstwerke waren, sondern auch eine starke Botschaft vermitteln. Jedes Jahr gibt es Gewinner, ein kleines Preisgeld, aber jeder erhält ein Teilnahmezertifikat. 2012 haben wir die »Harmony Walks« ins Leben gerufen.
Was ist Ihr Wunsch dabei gewesen?
Verschiedene Communitys zusammenzubringen, ihnen die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen. Es soll ein Schritt hin zum Positiven sein. Ich glaube sehr stark daran, das Gute zu sehen. Das macht es einfacher, mit Herausforderungen umzugehen. Wir haben darüber hinaus auch einen Song-Wettbewerb und engagieren uns mit Pädagogen an Schulen. Und ich möchte noch über eine andere Kampagne sprechen, die wir ins Leben gerufen haben.
Gern.
Sie heißt »Stop Racism Now« und wurde 2021 gestartet. Der Gouverneur von New South Wales war beim Start mit dabei. Leider kam uns die Pandemie dazwischen, aber im Juli werden wir einen neuen Auftakt haben mit sehr engagierten Menschen.
Mit Ernie und David Friedlander sprach Katrin Richter.
Ernie Friedlander kam 1935 in Wien zur Welt und wurde 1938 aus dem Land ausgewiesen. Er floh mit seiner Mutter nach Ungarn, dem Geburtsland seines Vaters. Nur seine Mutter und er überlebten die Schoa. 1950 kamen beide nach Australien. Die #OurHolocaustStory-Kampagne der Claims Conference läuft insgesamt ein Jahr.
Weitere Informationen unter www.claimscon.org/ohs und www.movingforwardtogether.org.au