Eine Kunstakademie hat Aleksandar Zograf (52) nicht besucht. Er hat eines Tages einfach angefangen, Geschichten zu zeichnen – mit sich selbst als Hauptfigur. »Das war in den 80er-Jahren in Jugoslawien, als nichts passierte«, erzählt Zograf, der in seinen Comics nur durch den schmalen Mund und die dunkle Augenpartie wiederzuerkennen ist. Wachträume als Zugang zur eigenen Kreativität interessierten ihn.
Mit dem Bürgerkrieg in Jugoslawien wurde Zograf aus seinen Träumen gerissen. »Es war einfach unmoralisch, weiter über Fantasie und Humor zu sprechen, während mein ganzes Land auseinanderfiel«, erinnert er sich. Und so fing er an, seine Verwunderung über die Feindseligkeiten zwischen einstigen Nachbarn zu beschreiben, das Leben unter UN-Sanktionen und die Bombardierung seiner Heimatstadt Pancevo. Seine Bildgeschichten erschienen in den USA, in Italien, Frankreich und Deutschland. »Wahrscheinlich waren es die ersten Comics, die im Land des ›Feindes‹ veröffentlich wurden, noch während die Bomben fielen«, schrieb ein Kritiker. Zograf zeigte Innenansichten eines Landes, das von der ganzen Welt nur noch mit Stirnrunzeln betrachtet wurde.
Historiker Mit der Geschichte von Hilda Dajc ist es genau andersherum: Zograf wendet sich an seine Landsleute, will ein Thema zurück in die serbische Öffentlichkeit bringen, das Menschen weltweit bewegt, in Serbien aber auf einen Kreis von Historikern, Nichtregierungsorganisationen und Opferverbänden beschränkt ist. Comics rücken Dinge näher heran, glaubt Zograf: »Jugendliche greifen eher zu einem Comic als zu einem Buch.«
Die Briefe von Hilda Dajc wurden vor zehn Jahren entdeckt. Sie gehören zu den seltenen Zeugnissen aus dem Leben im sogenannten Judenlager Semlin. Anfang der 40er-Jahre waren dort 5000 bis 7000 Menschen interniert. Die 19-jährige Hilda Dajc arbeitete als Krankenschwester im jüdischen Krankenhaus. Sie musste ihr Architekturstudium abbrechen, nachdem die Deutschen Belgrad bombardiert und Jugoslawien zerschlagen hatten. »Hilda war tüchtig und anständig«, erinnert sich Aleksandar Lebl an seine ehemalige Mitschülerin. »Und sehr schön«, fügt er nach einem Zögern hinzu.
fluchtplan Der heute 93-Jährige besuchte acht Jahre lang den jüdischen Religionsunterricht am Gymnasium mit ihr. Lebl gelang es, aus Belgrad zu flüchten. Eigentlich hätte er mit Hilda Dajcs Bruder die Stadt verlassen sollen, doch der gab seinen Fluchtplan auf – aus Angst, seinem Vater zu schaden. Emil Dajc arbeitete an der Spitze der »Vertretung der jüdischen Gemeinschaft«, einer jüdischen Selbstverwaltung, die von den Nazis eingerichtet worden war. »Auch Hilda hätte sich retten können«, glaubt der Holocaust-Überlebende Aleksandar Lebl. Die Familienbande der aus Wien stammenden Dajcs (Deutschs) waren womöglich stärker: Beide Kinder entschieden, bei den Eltern in Belgrad zu bleiben.
Im Dezember 1941 ging Hilda Dajc freiwillig und gegen den Willen ihrer Eltern in das gerade eingerichtete Lager. Von dort aus musste sie täglich ins jüdische Krankenhaus. Dabei hätte sie fliehen können, glaubt Lebl. Stattdessen kehrte sie immer wieder ins Lager zurück. Es war vermutlich das einzige in Europa, das auf einem modernen Messegelände entstand – Sajmište. Das Deutsche Reich hatte sich hier 1938 in einem eigenen Pavillon präsentiert.
Gewissen Hilda Dajcs erster Brief, und zugleich der letzte aus der Freiheit, klingt fast euphorisch: »So viele Menschen brauchen Hilfe, dass mein Gewissen mir befiehlt, jegliche sentimentalen Gründe, die mit meinem Zuhause und meiner Familie zusammenhängen, zu ignorieren und mich ganz in den Dienst anderer zu stellen. … Ich bin ruhig und gefasst und überzeugt, dass alles gut enden wird, vielleicht sogar besser als in meinen optimistischsten Erwartungen.«
Innerhalb weniger Monate verwandelt sich die optimistische junge Frau in einen dünnen, von Selbstzweifeln zerfressenen Menschen. Zografs Zeichnungen zoomen ins Innere seiner Protagonistin: Auf Stroh liegend, sieht sie abgemagerte Gesichter wie ein Todesfirmament über sich hängen. Zickzackstriche über den Köpfen geben die unerträgliche Lautstärke von 5000 Menschen in einem Raum wieder. Hilda Dajc arbeitet zwölf Stunden täglich, bei minimalen Essensrationen. Ihr mentaler und körperlicher Zustand verschlechtert sich schnell.
Im Februar 1942 – sie lebt seit zwei Monaten im Lager – schreibt Hilda Dajc in ihrem vierten und letzten Brief an ihre Freundin Mirjana: »Wir werden alle böse, weil wir verhungern, wir werden alle zänkisch und starren dem anderen auf den Teller. Alle sind verzweifelt, und trotzdem nimmt sich niemand das Leben, denn wir sind nur ein Haufen von Tieren, die ich verachte. Ich hasse jeden Einzelnen von uns, denn wir sind so tief, wie es nur irgend geht, gefallen.«
verachtung Selbsthass und Verachtung für die anderen Insassen statt Hass auf die deutschen Mörder. Die Aufseher sollen die Häftlinge zusätzlich erniedrigt haben, indem sie sie auf den beiden einzigen Toiletten fotografierten. Bis Ende 1941 hatten die Nazis die meisten jüdischen Männer im besetzten Serbien umgebracht: Im Zuge der sogenannten Geiselmordpolitik wurden für jeden verwundeten deutschen Soldaten 50 Serben und für jeden getöteten Deutschen 100 Serben ermordet.
In der zweiten Phase, von Dezember 1941 bis Mai 1942, wurden jene Frauen und Kinder, die im strengen Winter nicht verhungert waren, in Gaswagen ermordet. Eine primitive Konstruktion, bei der die Abgase in das Wageninnere geleitet wurden, während der Gaswagen durch Belgrad fuhr. Auch Hilda Dajc kam auf diese Weise ums Leben. Serbien war nach Estland das zweite Land in Europa, das für »judenrein« erklärt wurde.
Kollaboration 90 Prozent aller serbischen Juden überlebten den Nazi-Terror nicht. Wie viele genau umkamen, darüber gehen die Meinungen bis heute auseinander. Einerseits gab es die serbische Marionettenregierung und Kollaboration mit den Nazis, andererseits den gemeinsamen Widerstand von Volksdeutschen und Jugoslawen gegen die Nazis. »Ich verdanke meine biologische Existenz einem Deutschen aus Pancevo«, sagt Comiczeichner Aleksandar Zograf. Sein Großvater arbeitete in einer Untergrundbewegung, wurde von Spitzeln verraten und überlebte, weil ihm sein bester Freund, ein Volksdeutscher, ein Alibi verschaffte.
Zografs Heimatstadt Pancevo wurde bekannt für eines der ersten großen deutschen Kriegsverbrechen in Jugoslawien: Nach dem Tod zweier deutscher SS-Soldaten wurden wahllos Bewohner zusammengeholt und öffentlich erhängt.
Sozialismus In den 80er-Jahren setzte in Jugoslawien eine erste Aufarbeitung der Naziverbrechen ein, sagt die Historikern Olga Manojlovic-Pintar vom Institut für Neuere Geschichte in Belgrad: »Bis dahin war die Geschichte des Holocaust in ein sozialistisches Narrativ eingebettet.« Ob Juden, Serben oder Kommunisten – sie starben alle als Partisanen und Opfer der Faschisten.
Dubravka Stojanovic, Philosophieprofessorin an der Universität Belgrad, geht noch weiter. Sie schreibt, dass in Titos sozialistischer Mythologie von Anfang an kein Platz für Juden vorgesehen war. »Es sollte keine Konkurrenz zwischen den Opfern geben.« Diese erste Phase wurde Mitte der 80er-Jahre abgelöst von der zweiten Phase, der Phase der Instrumentalisierung, so Stojanovic: Jüdische und serbische Opfer seien gleichgesetzt worden, um das Bild der serbischen Opfernation noch »eindrucksvoller« erscheinen zu lassen. In der dritten Phase, zu Beginn des Jugoslawienkriegs in den 90er-Jahren, sei das Wort Genozid schließlich trivialisiert worden, um Ängste und Vorurteile unter den Serben in der kroatischen Republik zu schüren, schreibt Stojanovic: »Um das zu erreichen, bediente man sich der Holocaust-Rhetorik. Die Opfer wurden ausgewechselt und wieder einmal vergessen.«
Der Krieg in den 90er-Jahren unterbrach also den zaghaften Prozess der Aufarbeitung. Zwar sind inzwischen 15 Erinnerungsorte in Belgrad geplant, sagt die Historikerin Olga Manojlovic-Pintar, doch seit den Wahlen vor einem Jahr stagniere das Projekt. Nur eine kleine Gedenktafel erinnert an das Judenlager Semlin und seine unglaubliche Verwandlung: vom internationalen Messegelände, auf dem die neueste Fernsehtechnik präsentiert wurde, zu einer von Menschen gemachten Hölle.
denkmal Heute befinden sich Geschäfte und ein Café auf dem Gelände. »Wir wollen endlich ein jüdisches Denkmal und ein Holocaust-Museum in Belgrad an dieser Stelle«, sagt der Schoa-Überlebende Aleksandar Lebl. Doch vom chronisch klammen Staat werde es wohl keine Hilfe geben, seufzt er.
Hoffnungsvolle Signale gibt es dagegen bei der Zusammenarbeit der ex-jugoslawischen Staaten. Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kroatien, Mazedonien, Montenegro und Slowenien arbeiten zurzeit an einer gemeinsamen Ausstellung in Auschwitz-Birkenau. Die 1963 eröffnete Schau war 2009 geschlossen worden. Das, was ein Streitpunkt hätte werden können – die nationale Identität der Opfer –, ist keiner geworden. Zum Zeitpunkt des Holocausts war Jugoslawien eine Monarchie, Juden waren Jugoslawen ebenso wie Serben, Kroaten oder Slowenen.
geburtsorte Heute liegen in vielen Fällen ihre Geburts- und Wohnorte sowie der Ort ihrer Ermordung in unterschiedlichen Staaten. »Mit welchem Recht geben wir den Opfern eine neue Identität?«, fragt Olga Manojlovic-Pintar, die an der Ausstellung mitwirkt. Die Historiker haben vereinbart, dass Täter und Kollaborateure nicht separat gezeigt werden, sondern stattdessen eine Chronologie von Gewalt und Deportationen.
Das dürfte auch im Sinne von Aleksandar Zograf sein, der eigentlich Sasa Rakezic heißt. Dass sein Pseudonym Zograf auf Griechisch »Maler« und »Künstler« bedeutet, wusste er nicht, als er es auswählte. Im Mittelalter gaben sich Ikonenmaler auf dem Balkan diesen Namenszusatz, und noch heute ist es in Osteuropa ein verbreitetes Pseudonym. »Es zeigt, dass auf eine eigenartige Weise alle Menschen miteinander verbunden sind«, sagt Zograf.