Für Kurt, einen schwulen jüdischen Journalisten in New York, ist die Upper West Side die Wohngegend seiner Träume. Hier gibt es Zabar’s, Fairways, Lansky’s Deli, das Café Lalo, jüdische Theater und Kinos. Woody-Allen-Filme werden uraufgeführt, Kulturinstitutionen und Synagogen liegen in den Seitenstraßen des Broadway. Viele West Sider sind liberale jüdische Intellektuelle oder Künstler wie Stephen Sondheim, Tony Kushner oder Jerry Seinfeld.
Aber in den vergangenen Jahren hat sich die Upper West Side verändert: Statt Englisch hört man in den Straßencafés immer öfter Hebräisch oder Englisch mit hebräischem Akzent. Immer mehr Supermärkte eröffnen koschere Abteilungen. Zeitungskioske bieten israelische Zeitungen an. Denn seit einigen Jahren wandern viele Israelis nach New York aus. Darunter sind orthodoxe, aber auch säkulare Juden, denen Israel zu religiös geworden ist.
Niemand weiß genau, wie viele Israelis in die USA ausgewandert sind und aus welchen Gründen, schon deshalb, weil das ein Politikum ist, über das die israelische Regierung keine Statistik veröffentlicht. »Nach dem zionistischen Ethos«, sagt Nathan Guttman, Redakteur der jüdischen Zeitung Forward, »sollten Juden in Israel leben.« Laut einem Bericht der New York Daily News von 2005, der sich auf Auskünfte des israelischen Generalkonsulats berief, lebten damals bereits rund 800.000 Israelis in Amerika, davon die Hälfte in New York. Das sind mehr als in Tel Aviv.
Dem Department of Homeland Security zufolge reisen jährlich etwa 320.000 Israelis als Touristen oder mit einem temporären Arbeitsvisum in die USA ein. Die meisten davon verlassen Amerika zwar wieder, wenn das Visum abläuft, aber manche bleiben auch illegal, oder sie heiraten amerikanische Juden und bekommen damit eine Aufenthaltserlaubnis.
Rückkehrer Klar ist nur: Immer weniger Israelis kehren zurück. Waren es im Jahr 2009 laut Forward noch fast 12.000, sank die Zahl der Rückkehrer 2011 auf 8.492. Shira und Orin gehören zu denen, die mit einem Arbeitsvisum nach Amerika gekommen sind. Zuerst lebte das junge Paar in New York, dann zog es nach Los Angeles weiter, obwohl die beiden sich in New York wohler gefühlt hatten.
Shira und Orin sind Schauspieler, und dafür sei es in Los Angeles besser, sagt Shira, eine zierliche Frau mit langem dunklem Haar. Sie sind nicht die einzigen. »Viele Israelis sind in Hollywood und hoffen, Karriere zu machen«, meint Shira. Bleiben wollen die beiden nicht, denn sie vermissen Familie und Freunde. Aber wer weiß, wann sie es wieder zurückschaffen – Jobs für Schauspieler sind rar.
Anders geht es Sela, der ebenfalls vor ein paar Jahren nach New York kam, allerdings mit seinen Eltern. Damals war er 17 Jahre alt. »Meine Eltern sind Linke, ihnen wurde Israel einfach zu rechts«, sagt er. »Die kommen aus der Kibbuz-Bewegung und wollten nicht mehr zusehen, wie die religiösen Ultras alles übernehmen.« Sela arbeitet heute bei einem Internet-Start-up im liberalen Manhattan und fühlt sich dort wohl.
Auch Roger Cohen, Kolumnist der New York Times, ist zunehmend von ausgewanderten Israelis umgeben. »Sie sorgen sich wegen des stärker werdenden Nationalismus in Israel, des wachsenden Einflusses der Ultrareligiösen, der festgefahrenen Situation und der Spannung, die aus einem Status quo erwächst, der eines Tages entweder Israels Jüdischsein oder seine Demokratie bedrohen wird«, schreibt er. »Sie verlassen das Land, weil sie das nicht wollen, aber nicht mehr glauben, dass sich das jemals ändert.«
Daneben kämen auch russische Juden, die ohnehin nur nach Israel ausgewandert seien, um dort den Pass zu beantragen, sagt Forward-Redakteur Guttman. Sobald sie diesen hätten, emigrierten sie nach Amerika, manchmal nur Wochen später. Viele hätten mit dem Judentum wenig am Hut. Manche seien mit gefälschten Papieren aus der Sowjetunion ausgereist. Einige israelische Reservisten wanderten aus, weil sie nicht mehr auf ewig zum Dienst gerufen werden wollen. »Und es kommen junge Männer, die schnelles Geld verdienen wollen«, mutmaßt Guttman.
Kleingewerbler Das beschreibt auch Steven Gold in The Israeli Diaspora. Gold zufolge gibt es zwei Hauptgruppen von Israelis, die nach Amerika gehen: Studenten, die sich irgendwann entschließen, dort zu bleiben, und Kleingewerbler, die vor den »sozioökonomischen und geopolitischen Unruhen« in Israel flüchten. Beide sind meistenteils säkular. Viele dieser »Kleingewerbler« arbeiten heute in Shopping-Malls, wo sie in 15-Stunden-Schichten Gesundheitsprodukte wie Salz vom Toten Meer anbieten. Mit dem Lohn finanzieren sie meist Reisen – nach Südamerika, Indien, Südostasien. Oft werden sie von Mittelsmännern angeworben, die ein Arbeitsvisum versprechen. »Aber das ist schwer zu bekommen«, sagt Guttman. »Der Arbeitgeber muss nachweisen, dass er keinen Amerikaner für den Job findet.«
Das Phänomen hat derart zugenommen, dass das U.S. State Department Israelis offiziell gewarnt hat, ohne Arbeitsvisum eine Beschäftigung zu suchen. Wer das tue, hieß es in einer Mitteilung, könne ins Gefängnis kommen und zudem jahrelang für die Wiedereinreise gesperrt werden.
Auch in der Heimat ist man von diesen illegalen Wanderarbeitern nicht begeistert. Denn Israel will an dem Visa-Waiver-Programm teilnehmen, das eine dreimonatige USA-Reise ohne Visum erlaubt. Dafür aber müsse die Zahl der Betrugsversuche bei Visaanträgen und die Zahl der Illegalen zurückgehen, sagt Guttman.
Lange Zeit verlief die Wanderung umgekehrt: Orthodoxe, vor allem aus Brooklyn, gingen nach Israel oder in israelische Siedlungen in der Westbank, wenngleich sie ihren US-Pass nicht aufgaben. Die israelische Regierung finanziert gemeinsam mit jüdischen Organisationen und Philanthropen in den USA zehntägige Reisen für junge Diaspora-Juden nach Israel. Ihnen soll damit die Heimat ihrer Ahnen nahegebracht werden.
Manche New Yorker mögen diese Programme nicht. »Meine Schwester Jennifer hat einmal einen dieser kostenlosen Trips nach Israel gebucht, ist zum orthodoxen Judentum konvertiert, hat einen Konvertiten geheiratet, zwei Kinder bekommen und ist mit ihrer Familie in eine Siedlung in Jerusalem gezogen«, erzählt Theaterautor Andy Hammerstein, dessen Cousin eine kleine Bühne an der Upper West Side betreibt. »Dabei besteht unsere Familie praktisch aus Heiden.« Und Kurt, der schwule jüdische Journalist, hat zwar nichts gegen die säkularen Israelis, findet aber, dass zu viele Religiöse kommen. »Ich hoffe«, sagt er, »dass sie nicht anfangen, Schwule und ›unzüchtig‹ gekleidete Frauen zu attackieren wie in Jerusalem.«