Für Lenka Ulicna fühlte es sich an wie ein echtes Abenteuer: Im Schutzanzug und im Licht von Taschenlampen stieg sie Leitern hinauf, die über Jahrhunderte kaum jemand betreten hatte.
Auf die Dachböden von Synagogen auf dem tschechischen Land führen sie – in Räume, die zum Teil seit dem 16. Jahrhundert als Genisa dienen, also als Lagerstätte für ausgediente Gegenstände, die wegen ihres religiösen Charakters nicht auf dem normalen Müll landen durften. »Ich kam mir vor wie jemand, der zum ersten Mal einem Geheimnis auf die Spur kommt«, sagt Ulicna, eine Forscherin vom Jüdischen Museum in Prag.
projekt Dort leitet sie ein Projekt, das in der tschechischen Geschichte einzigartig ist: »Tajemstvi pudy« heißt es, übersetzt »das Geheimnis des Dachbodens«. Systematisch sollen Genisa-Funde aus 13 Synagogen überall im Land untersucht und teilweise auch restauriert werden.
Das auf Jahrzehnte angelegte Projekt fand nun einen der Höhepunkte: In Chrudim, etwa anderthalb Stunden östlich von Prag, wurde im Regionalmuseum eine aufwendige Ausstellung eröffnet – eine Schau, die nicht nur Judaica zeigen will, sondern vor allem das Bewusstsein dafür schärfen möchte, wie eng die jüdischen und die christlichen Bewohner in der Region bis zum Holocaust zusammengelebt hatten.
Immer wieder, berichtet Lenka Ulicna, habe man Hinweise auf Brauchtümer gefunden, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Synagogen gepflegt wurden. Das fing an mit der Kleidung, die je nach Region aus den gleichen Materialien hergestellt und mit den gleichen typischen Mustern verziert worden war – denn auch Kleidungsstücke fanden sich auf den Dachböden.
lederschuhe Und es ging bis hin zu bestimmten Traditionen, nach denen etwa getragene Schuhe nicht achtlos weggeworfen wurden; das respektierten christliche wie jüdische Bewohner gleichermaßen, und so fand Ulicna mit ihrem Team auf zahlreichen Dachböden die Überreste von alten Lederschuhen.
»Die Funde zeigen, welche Sprachen in den Gemeinden gesprochen wurden.«
Lenka Ulicna
»In den 90er-Jahren gab es schon erste Forschungsprojekte zu den Genisot«, sagt Ulicna, »aber die waren ganz anders ausgerichtet als unseres. Damals lief das so: Die Forscher kamen auf die Dachböden und suchten sich heraus, was ihnen wertvoll erschien – meistens waren das alte Drucke und Handschriften. Wir haben den Zugang komplett geändert und sammeln auch Dinge, die ihnen noch uninteressant erschienen waren.«
So archivieren die Forscher jetzt beispielsweise auch Verpackungsmaterialien wie Kisten und Beutel. Die zeugen davon, wie die Genisot wohl funktionierten: Die Leute sammelten über einige Wochen und Monate zu Hause die Dinge, die sie dann in regelmäßigen Abständen auf dem Dachboden der Synagoge einlagerten. »Genau das interessiert uns«, sagt Lenka Ulicna: »diese ethnografische Dimension«.
JUDAICA Tatsächlich schließt das Forschungsprojekt in Tschechien eine Lücke: Das Jüdische Museum in Prag verfügt über einen gewaltigen Schatz an Judaica aus allen Epochen – aber dort sind eben nur die besonders kunstvollen Gegenstände erhalten; jene, die zu ihrer Zeit als erhaltungswürdig erachtet wurden. Auf den Dachböden hingegen fahnden die Forscher buchstäblich nach Abfall: nach alltäglichen Dingen, die deshalb oft achtlos weggeworfen wurden. Jetzt dienen sie gewissermaßen als Zeitmaschine in die Lebensrealität der jüdischen Gemeinden auf dem böhmischen und mährischen Land.
»Für mich waren etwa die Zeugnisse über sprachliche Änderungen interessant«, sagt Lenka Ulicna: »Die Funde zeigen sehr authentisch, welche Sprachen in den Gemeinden gesprochen wurden. Wir wissen, dass früher Jiddisch gesprochen wurde, später ging es dann ins Deutsche über, danach gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam auch Tschechisch dazu.«
Wenn auf den Dachböden etwa hebräische Lehrbücher aus einer bestimmten Epoche zu finden waren, lassen sie darauf schließen, dass sie ausgemustert wurden, weil die Texte in den Schulen nicht mehr einsetzbar waren. Aus einer späteren Epoche kamen dann Lehrbücher auf Deutsch hinzu. »Wir konnten also ermitteln, wie in der Realität die Verschiebungen in den Sprachen stattgefunden haben«, bilanziert Ulicna.
Auf Fotos ist zu sehen, wie sie und ihr Team auf den Dachböden unterwegs sind, Schutzhandschuhe und Atemmasken tragend. Auf nacktem Holzboden liegen Hunderte Papierschnipsel und andere Artefakte, oft in mehrere Teile zerfallen und in fortgeschrittener Zersetzung. »Wir haben Gerichtsentscheidungen und Eheverträge dort gefunden, also auch Unterlagen für Genealogen. Die können jetzt in unseren Sammlungen Hinweise auf bestimmte Namen und Daten finden, die früher nicht bekannt waren – etwa, weil es um Leute ging, die nicht bedeutend waren«, so ihre Bilanz.
Schofar Der Fokus der Forscher lag aber nicht nur auf den schriftlichen Zeugnissen, sondern auch auf Alltagsgegenständen: Masken etwa wurden gefunden, ein Schofar und andere Artefakte, die teilweise aus dem 16. Jahrhundert stammen. Es dürfte vor bevorstehenden Renovierungen der alten Synagogen die letzte Gelegenheit gewesen sein, in unversehrte Genisot hineinzuschauen.
Schwierig war allein schon die Überlegung, wie mit den Funden umzugehen sei.
Schwierig war allein schon die Überlegung, wie mit den Funden umzugehen sei: »Wir haben im Jüdischen Museum zwar Werkstätten für Papier, für Textilien, auch für metallene und hölzerne Gegenstände. Wir haben wirklich erfahrene Restauratoren. Aber auch die haben lange überlegt, wie sie mit den Gegenständen verfahren sollen – mit Gegenständen, bei denen klar ist, dass sie eigentlich für den Verfall bestimmt waren«, sagt Ulicna.
restauratoren Die Restauratoren hätten sie natürlich in einen guten Zustand zurückversetzen können, aber das sei gar nicht das Ziel gewesen. Stattdessen entwickelten sie eine Strategie, nach der die Gegenstände zwar konserviert wurden, aber den Besuchern nicht vorgegaukelt werden soll, dass sie neu seien. »Man soll sehen, woher sie stammen«, so heißt bei dem Museum dieser Zugang.
Leo Pavlat, Direktor des Jüdischen Museums Prag, ist überzeugt, dass genau das der richtige Weg ist. »Alle Gegenstände wurden der Vergessenheit entrissen. Ich finde, damit wird der Charakter der Genisa nicht verändert, der Name Gottes nicht entheiligt. Im Gegenteil: Alle Gegenstände erinnern an die jüdischen Gemeinden, an jüdische Traditionen und Gebräuche, und ehren dadurch ihr Andenken. Die Ausstellung ist eine Feier des religiösen Judentums.«