Schwarzes Hemd, Jeans, randlose Brille und Dreitagebart – bei einem ausverkauften Event in London gibt sich Yotam Ottolenghi lässig und doch nachdenklich. »Das Seriöse habe ich von meinem Vater«, sagt der in Jerusalem geborene und in Großbritannien zur Berühmtheit aufgestiegene Küchenchef. Seinem Vater zuliebe habe er das Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Tel Aviver Universität abgeschlossen, sagt er. Gleichzeitig arbeitete er bei der israelischen Tageszeitung Haaretz im Nachrichtenteam.
Wo begann bei all dem die Leidenschaft fürs Essen? Zu Hause war es die italienische und doch einfache Kochkunst seines Vaters sowie die israelischen Frühstücke seiner Mutter. »Frühstück«, verrät Ottolenghi, »das war die Hauptmahlzeit für meine Familie, die sonst kaum Zeit zum gemeinsamen Essen hatte.« Außerhalb der Familie waren es Restaurants vor allem in Ostjerusalem. »Anders als heute war die jüdische Seite Jerusalems damals in kulinarischer Hinsicht noch nicht so gut entwickelt wie die palästinensische«, behauptet er und berichtet von gemeinsamen Fahrradausflügen mit seinem Vater und seinem Bruder den Berg hinunter ins subtropische Jericho. Er erzählt von den Blumen und der Hitze im Tal und von einer Vielfalt neuer und aufregender Geschmäcker.
»Damals, in meiner Kindheit, in den Jahren nach dem Sechstagekrieg, konnte man noch einfach so ins Westjordanland.« Der 1968 in Jerusalem geborene und aufgewachsene Yotam Ottolenghi nennt diese Jahre eine Zeit der Möglichkeiten für Frieden, »denn unter jordanischer Besatzung war es den Palästinensern nicht so gut gegangen, und Israels Präsenz war damals noch neu«.
Kochbücher Zwischen Gesprächen über Brokkoli, Auberginen und Fleisch weicht er dem Nahostkonflikt keineswegs aus: Im Gegenteil, er spricht frei von der Zweistaatenlösung und seinem ersten Londoner Geschäftspartner, dem Palästinenser Sami Tamimi, mit dem er gemeinsam auch Kochbücher herausbrachte, darunter eines zur Küche Jerusalems. »Sami und ich waren der Beweis, dass das Miteinander zwischen Israelis und Palästinensern auch anders geht.«
Hatte ihm Jerusalem Appetit gemacht, so war es Tel Aviv, wo er zum Kochlöffel griff und anfing zu experimentieren. »Ich lebte in der Nähe des Carmel-Marks und kaufte alles frisch. Erst Jahre später verstand ich, was für ein Privileg es war, neben dem Überfluss eines solchen Marktes zu leben!«
Ottolenghi liebte das Kochen, lud hungrige Kommilitonen zum Essen ein und empfand es als große Freude, ihnen etwas Leckeres vorzusetzen. Im Gegensatz zum Starren auf den Computerbildschirm erlebte er das Kochen als genauso fließend und befreiend wie Tel Avivs ausgeprägte Schwulenszene – ein Ort der Verwirklichung seiner Identität.
Doktorarbeit In der Absicht, eine Doktorarbeit zu schreiben, zieht Ottolenghi 1996 zuerst nach Amsterdam, dann nach London. Doch anstatt in der Londoner Bibliotheken seinen Studienabschluss zu verfolgen, rührt er schon bald in den Töpfen von Londons berühmter französischer Kochschule »Le Cordon Bleu«. Obwohl er auch London als Stadt der Befreiung sieht, empfindet er die dort gelernte Kochkunst als »Nachkreieren festgelegter überkochter und überpräparierter Gerichte«.
Der frisch gebackene Koch arbeitet in Londons edelsten Küchen und bekommt letztlich im Restaurant »Baker and Spice« im teuren Stadtteil Chelsea eine Anstellung als Konditormeister. Wie es der Zufall will, arbeitet dort auch Sami Tamimi. Die beiden lernen einander kennen und entdecken, dass sie sehr viel gemeinsam haben: das Geburtsjahr, das Leben in Jerusalem, Tel Aviv, London, die Liebe zum Essen – und auch zu Männern. »Wir wurden sehr schnell gute Freunde«, erinnert sich Ottolenghi.
In dieser Zeit kommt der Wunsch auf, sich selbstständig zu machen. Tamimi hält anfangs das Risiko für zu hoch, macht dann aber doch mit. Das erste Ottolenghi-Restaurant öffnet seine Pforten im Jahr 2002 und ist eine Kooperation zwischen Yotam Ottolenghi, Sami Tamini und Noam Bar, Ottolenghis früherem Lebenspartner, der bis heute sein Geschäftspartner ist.
Im Sturm nehmen Ottolenghis mediterrane Kreationen London ein. Fünf Restaurants in der Stadt arbeiten heute unter seinem Namen. Zwei weitere Partner sind inzwischen mit ins Geschäft eingestiegen: Ramael Scully und Cornelia Staeubli. Obwohl die Kette seinen Namen trägt, seien die Partner alle vollkommen gleichberechtigt, betont Ottolenghi.
Zum Teil allein und zum Teil gemeinsam mit seinen Partnern veröffentlichte Ottolenghi mehrere Kochbücher – einige wurden auch ins Deutsche übertragen. Einem Riesenpublikum wurde er durch eine Fernsehsendung bekannt. Darin reist er durch die Regionen des Mittelmeers und erforscht lokale Gerichte.
Ottolenghis Markenzeichen wurde es, traditionelle mediterrane Speisen, aber auch Gerichte aus dem Mittleren Osten, leicht abzuwandeln. Dabei geht es ihm vor allem um den natürlichen Geschmack von Gemüse, Linsen, Fleisch – und darum, wie die Gerichte aussehen. Seine Kochbücher legen Zeugnis davon ab, dass er auch ein Meister des Visuellen ist.
Leihmutter Oft als israelischer Export gefeiert, gesteht Yotam Ottolenghi, dass er sich mit traditionellen jüdischen Speisen sehr schlecht auskennt. Allerdings werde er gelegentlich von jüdischen Kunden gedrängt, sich auch dieser Speisen anzunehmen. Er selbst wuchs säkular auf. »Wir feierten allenfalls Pessach in meiner nicht koscheren Familie«, sagt er und lacht. »Ich musste, wenn ich etwas über jüdisches Essen erfahren wollte, oft zu Claudia Rodens Standardwerk greifen.« Erst als er selbst Vater wurde, änderte sich das. Ottolenghi, der mit seinem irischen Lebenspartner Karl Ellen zwei kleine Söhne hat – beide wurden mittels künstlicher Befruchtung gezeugt und von einer Leihmutter auf die Welt gebracht –, ist es nun wichtig, dass seine Kinder etwas vom Judentum mitbekommen. Stolz erzählt er davon, dass sie angefangen haben, die jüdischen Feste zu feiern.
Ottolenghi spricht bewusst offen über seine Kinder, um anderen gleichgeschlechtlichen Paaren Mut zu machen. Auch über andere Themen schweigt er nicht, wie den Antisemitismus in der britischen Labourpartei. »Das ist schwierig für mich. Ich verstand London immer als einen Ort, an dem alle akzeptiert werden.«
Biskuit Gefragt, wie er denn den obligatorischen Käsekuchen zum bevorstehenden Schawuot backe, beschwert sich Ottolenghi erst einmal darüber, dass es in England keinen Quark gibt, denn der sei essenziell. Der Boden des Kuchens, so viel verrät er, muss auf alle Fälle wie ein Biskuit sein: »zart und ein klein wenig brüchig«.
Und welchen Rat hat der Meisterchef in Sachen Kreativität? »Sie kommt aus der Zuversicht des Vertrauten.« Ottolenghi rät, mit Zutaten zu experimentieren, die man gut kenne. Aber auch er kriegt es manchmal nicht richtig hin. Was seine neuen Gerichte betrifft, bezahlt er eine Testkosterin in Wales. Außerdem hat sein Team immer das letzte Wort, denn inzwischen gehe es auch um Imagepflege, was eben so typisch Ottolenghi sei, sagt er. Man weiß nicht genau, ob er das aufgrund der eingeschränkten Freiheit bedauert oder ob er es als Errungenschaft versteht. Wie dem auch sei – vor seinen Londoner Restaurants stehen die Leute schon am Morgen Schlange.