Patrick Bernhart war 15, als er erfuhr, dass er jüdisch ist. Seine Mutter hatte als junges Mädchen nach einer unbeschwerten Jugend in Ungarn mehrere Konzentrationslager überlebt. Während des Ungarn-Aufstands 1956 floh sie mit ihrem Mann in den Westen und fand in den Niederlanden eine neue Heimat. Bernharts Vater hatte als größerer Junge in verschiedenen Lagern Zwangsarbeit leisten müssen. Die Eltern hatten Schreckliches hinter sich, als ihr Sohn geboren wurde, in einem gänzlich ungarischen Haushalt in den Niederlanden.
»Bis zu meinem vierten Lebensjahr sprach ich nur Ungarisch«, sagt der heute 55-Jährige. »Ich liebe diese Sprache, die Küche und Budapest, obwohl ich mich 100-prozentig niederländisch fühle und voll und ganz niederländisch bin.«
Nun hat seine jüdische und mitteleuropäische Familiengeschichte ihn dazu inspiriert, einen Verlag zu gründen, in einem Alter, in dem andere vielleicht darüber nachdenken, in Frührente zu gehen. Der Name des Verlags: Pressburg. »Väterlicherseits stammt meine Familie mit Namen wie Grünfeld und Duschinsky aus der Gegend um Pressburg.« Er habe entdeckt, dass in Bratislava, der Hauptstadt der heutigen Slowakei, unter seinen Vorfahren Toraschreiber, Drucker und Autoren lebten. Aber kein Verleger. »Da dachte ich mir: Diese Lücke möchte ich ausfüllen. Auch weil ich meine Familiengeschichte und deren Einfluss auf mein Leben veröffentlichen wollte.« Natürlich hätte er dies auch über einen bestehenden Verlag tun können, doch es reizte ihn, selbst einen zu gründen. »Das fand ich spannend. Es ist ein schönes Abenteuer für mich.«
Das erste Buch, das Bernhart publiziert hat, ist das Eigenwerk Vlieg, mijn zwaluw (Flieg, meine Schwalbe). Ein habsburgisches, jüdisches, ungarisches, niederländisches Familiendrama, heißt es im Untertitel. Es sei richtungsweisend für die Bücher, die er veröffentlichen möchte. »Lebensgeschichten wie meine eigene. Ich möchte anderen dabei helfen, es auch zu tun.«
Der Verleger und Schriftsteller weiß wie kein anderer, wie sehr die eigene Familiengeschichte einem zusetzen kann. »Ich war immer ängstlich. Weil ich mich anderen gegenüber nicht zu öffnen traute, hatte ich nie eine Beziehung. Ich war voller Angst, Wut und Scham, die ich von meinen Eltern und Vorfahren übernommen hatte.«
Dass seine Mutter ihm erzählte, er sei jüdisch, ihm aber zugleich auferlegte, dies für sich zu behalten, machte es schwer für ihn. Doch fing er auch an, sich für jüdische Kultur zu interessieren. Über seine Recherchen für Vlieg, mijn zwaluw lernte er das habsburgische Judentum kennen. Und er entdeckte, dass es in seinem Stammbaum zwar etliche Rabbiner gibt, aber auch viele assimilierte Juden, die in Prag, Wien und Budapest ein sehr weltoffenes Leben führten.
»Durch Geschichten, in denen sich meine Vorfahren mutig gezeigt haben, sehe ich die Welt und mich selbst jetzt anders. Ich habe mich verändert«, sagt Patrick Bernhart. Er sei nun offen für Familiengeheimnisse und habe die Traumata und den Schmerz, die er von den Vorfahren seiner Eltern übernommen habe, verarbeitet. »Ich habe mein eigenes Ego zur Seite gelegt und versuche, anderen gegenüber empathisch zu sein.«
Bernharts Verlag konzentriert sich auf drei Themenbereiche: Warum und wozu leben wir eigentlich? Wie kann man sein Leben einrichten? Und Lebensgeschichten. Er möchte sich aber nicht darauf beschränken. Er plant, niederländische und übersetzte Bücher zu veröffentlichen, sowohl Belletristik als auch Sachbücher. Sein Anliegen sei es, möglichst viele Menschen zum Lesen zu bringen, gerade in einer Zeit, wo immer weniger gelesen wird.
In seinem Wunsch, an die Öffentlichkeit zu treten, habe er jedoch auf seine Mutter Rücksicht genommen, sagt Bernhart. »Erst seit ihrem Tod vor zwei Jahren erzähle ich auch Fremden, nicht nur meinen engsten Freunden, dass ich jüdische Wurzeln habe. Vlieg, mijn zwaluw ist also meine Art von Coming-out.«