»Haben Sie den Beitrag heute über das jüdische Spital gesehen? Und den über das Haus in der Nikolausgasse mit der ›Kornschen Schil‹ daneben? Sie ist restauriert worden.« Das Berliner Ehepaar Gabriele und Eduard Weissmann ist jederzeit auf dem Laufenden, wenn es um aktuelle Entwicklungen in der ukrainischen Stadt Chernivtsi (Czernowitz) geht.
Über Jahrzehnte pflegte Gabriele Weissmanns Mutter Ria Meerbaum-Gold den Kontakt mit vielen früheren Czernowitzern brieflich und durch Besuche. Mittlerweile hat für ihre Tochter das Internet diese Funktion übernommen.
Erinnerungen »Der Reichtum an Informationen ist unfassbar. Jeden Tag erscheinen neue Beiträge auf der Liste – aus verschiedenen Orten, von Vertretern unterschiedlicher Generationen.« Die Liste? Es handelt sich um die Website czernowitz.ehpes.com, auf der seit knapp zehn Jahren Menschen aus aller Welt ihre Erinnerungen an die Stadt teilen und sie zu einer ergiebigen familiengeschichtlichen Quelle machen.
Schon immer war es leicht, ehemalige Einwohner der Stadt miteinander ins Gespräch zu bringen. Nach nur kurzer Anlaufzeit redeten sie über die Vergangenheit ihrer schönen Stadt, über die jüdischen Nachbarn, die rumänischen Institutionen in der Zwischenkriegszeit, über die Deutschen im Stadtteil Rosch, die Ukrainer, die polnischen Katholiken, die Ausflüge in die Umgebung, über das Ghetto, die Deportationen.
Nichts konnte dieser Diaspora besser ihr globales Gesicht zeigen als das Internet. Dies erkannten bereits 1997 der Professor für Pflanzengenetik Bruce Reisch in New York und einige wegen ihrer Herkunft an bukowinischer Familiengeschichte Interessierte.
Sie gründeten eine Website zum Austausch über Familien aus Sadagora, dem nahe Czernowitz liegenden Ort mit dem Sitz eines Wunderrabbis. 2002 schuf der Kanadier Jerome Schatten dann für zunächst 28 Mitglieder die Webseite czernowitz.ehpes.com, auf der sowohl E-Mails ausgetauscht als auch Fotos, Landkarten, Dokumente und vieles mehr deponiert werden können.
Posts 328 Nachrichten kamen im ersten Jahr zusammen. Mittlerweile hat sich die Zahl der Teilnehmenden und die der Posts verzehnfacht. Über 10.000 Meldungen kann man heute im Archiv nachlesen. Mit den Dokumenten und Fotos ist der Auftritt eine reiche Quelle geworden für jeden, der an der Stadt und ihrer jüdischen Geschichte interessiert ist.
Das Netz der Beteiligten knüpfte sich bald so eng, dass eine Kontaktaufnahme außerhalb des virtuellen Raums nur folgerichtig erschien. So kam es im Jahr 2006 zu einem ersten großen Treffen der Czernowitzer in ihrer Stadt.
Die Autoren Marianne Hirsch und Leo Spitzer haben diese Begegnung in ihrem Buch Ghosts of Home geschildert. »All die (...) Cyberspace-Korrespondenten grüßten uns, schüttelten uns die Hände und wurden real.« Allen, die nicht selbst in Czernowitz geboren wurden, half der Besuch, endlich einen Eindruck von der Stadt ihrer Vorfahren zu bekommen. Das Treffen vertiefte die Aktivitäten der Czernowitzer.
Weil viele damit unzufrieden sind, wie man heute in der Stadt an die früheren jüdischen Einwohner erinnert, sind einige aktiv geworden und versuchen immer wieder, offizielle Stellen auf Czernowitz’ jüdische Prägung aufmerksam zu machen. So waren Mitglieder der Internetgemeinde an der Konzeption und Einrichtung eines kleinen Jüdischen Museums beteiligt oder finanzierten etwa eine Plakette für den früheren Bürgermeister Traian Popovici, der während der Schoa Tausende Juden vor der Deportation rettete.
czernowitz.ehpes.com