USA

Corona erzwingt den Fortschritt

Noch bevor die Coronavirus-Pandemie Kalifornien in vollem Maße erfasst hatte, übernahmen Kayla Newman und Leeat Hatzav Besorgungen und Einkäufe für ihre Nachbarn. Die beiden Schwestern sind um die 20 und leben orthodox.

»Uns wurde klar, dass das Virus für ältere Menschen und solche mit geschwächtem Immunsystem sehr gefährlich ist«, sagt Newman. »Außerdem hatten wir als Studenten Zeit − und unseren Freunden ging es genauso.« So gründeten sie, um ihre Einsätze besser zu koordinieren, eine WhatsApp-Gruppe.

internetseite Aus der Initiative ist inzwischen die Internetseite ShoppingHelpersLA hervorgegangen, auf der Menschen, die das Haus nicht verlassen können oder wollen, andere beauftragen, für sie einzukaufen.

Als Gavin Newsom, der Gouverneur von Kalifornien, am 19. März die 40 Millionen Einwohner des Staates anwies, zu Hause zu bleiben, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, hatten die ShoppingHelpers bereits mehr als 100 Freiwillige.

Inzwischen sind es über 500, und sie bearbeiten jeden Tag rund 100 Anfragen. Viele, die das Angebot nutzen, haben eine Beziehung zu den beiden Schwestern aufgebaut. »Sie rufen uns jede Woche an, und wir wissen meistens schon, was sie bestellen«, sagt die Psychologiestudentin Kayla Newman. Sie hofft, dass ShoppingHelpersLA die Pandemie überleben wird.

Ausgangssperre Anfang März überlegten Adam Lutz, Assistenzrabbiner bei Temple Emanuel of Beverly Hills, und seine Kollegin von Temple Isaiah, Rabbinerin Dara Frimmer, wie mit der bevorstehenden Ausgangssperre umzugehen sei.

»Lasst uns Informationen und Ressourcen austauschen«, schlug Lutz vor. Frimmer war sogleich Feuer und Flamme. Der 33-jährige Lutz, der vor seiner Ausbildung am Hebrew Union College als Luftfahrtingenieur bei der amerikanischen Marine arbeitete, programmierte am nächsten Tag sogleich eine Webseite.

»Jew It At Home« − eine neue Website bündelt virtuelle Angebote.

Daraus wurde Jew It At Home, ein Zusammenschluss von mittlerweile 23 jüdischen Organisationen, die ihre virtuellen Angebote bündeln, um ein Gefühl von Zusammenhalt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Los Angeles und darüber hinaus zu vermitteln.

»Normalerweise haben wir Angst, Mitglieder zu verlieren, wenn wir mit anderen Synagogen zusammenarbeiten«, gesteht Lutz. »Uns treibt die Sorge, es könnte ihnen dort besser gefallen.« Diese Einstellung sei jedoch auf lange Sicht nicht tragfähig, glaubt der Rabbiner, dessen Vater ebenfalls Rabbiner einer Reformgemeinde in Los Angeles ist. »Indem wir uns gegenseitig unterstützen, zeigen wir den Menschen, dass unsere Religion uns hilft, miteinander in Kontakt und eine Gemeinschaft zu bleiben«, sagt er.

heimatstadt Lutz, der auch die Religionsschule von Temple Emanuel leitet, ist im Großraum Los Angeles aufgewachsen. Nach dem Rabbinatsstudium in Jerusalem und New York kehrte er 2016 in seine Heimatstadt zurück, gemeinsam mit seiner Frau Emma, die dort eine Stelle als Kantorin antrat.

Von Bibelstunden für Kinder über Yoga und Talmuddiskussionen bis zu Kochkursen ist bei Jew It At Home für fast jeden etwas dabei. Auch Hilfsangebote für Menschen, die Informationen über das Coronavirus oder ihre Rechte im Falle einer Entlassung oder Zwangsräumung suchen, gibt es.

Auf den Namen kam Emma Lutz am Abend, bevor die Internetseite an den Start ging. In Anlehnung an den bekannten Werbespruch des Sportartikelherstellers Nike schlug sie »Just Jew It At Home« vor.

»Normalerweise haben wir kaum etwas mit anderen Gemeinden zu tun, stattdessen sitzt jeder in den vier Wänden seiner eigenen Synagoge«, sagt Rabbi Lutz. Die Pandemie habe zwar in der jüdischen Gemeinschaft einiges auf den Kopf gestellt, doch sei es gut, dass einige Organisationen dazu gezwungen wurden, neue Formen der Gemeindearbeit im 21. Jahrhundert zu entwickeln.

ostküste An der Ostküste des Landes hat das Coronavirus vor allem die benachbarten Bundesstaaten New York und New Jersey hart getroffen. Mit 243.000 (Stand Dienstag) hat New York die höchste Zahl bestätigter Fälle von Covid-19. In Kalifornien sind es hingegen nur knapp 30.000.

Besonders dramatisch ist die Lage in den vielen chassidischen Enklaven. In New Rochelle, eine halbe Autostunde nördlich von Manhattan, hatte Anfang März ein Gast bei einer Batmizwa-Feier zahlreiche Menschen angesteckt. Und Borough Park in Brooklyn hat mit 1900 Infektionsfällen eine der höchsten Raten der Stadt.

Auch mehrere jüdische Prominente starben daran. So erlag am 1. April Rabbi Yisroel Friedman, ein bekannter orthodoxer Rabbiner, im Alter von 84 Jahren der durch das Coronavirus ausgelösten Lungenentzündung. Und vergangene Woche starb Stanley I. Chera, ein jüdischer Freund von Donald Trump aus dessen Zeit in New York, an Covid-19.

Spenden Adam Kantor (33), Inhaber und Mitbegründer von StoryCourse, einer Firma, die in New York kulinarische Shows produziert, veranstaltete vor zwei Wochen mit Freunden und Kollegen einen »Seder für den guten Zweck« − natürlich virtuell, über die beliebte Videokonferenzplattform Zoom.

Die ShoppingHelpersLA kaufen für ältere und kranke Menschen ein.

Im Gegensatz zu den Seder-Großveranstaltungen, die StoryCourse in den vergangenen Jahren auf die Beine gestellt hatte, war das Budget diesmal um einiges kleiner. Dafür konnten die Organisatoren mit dem Schauspieler Jason Alexander, bekannt aus der Comedyserie Seinfeld, den Sängern Josh Groban, Billy Porter und Idina Menzel sowie Whoopie Goldberg prominente Mitwirkende gewinnen.

Auch die Ästhetik war zwangsläufig eine andere. »Wir haben gar nicht erst versucht, zu verstecken, dass alle vor ihrem Computer oder am Telefon saßen«, erklärt Kantor, der in seinem Elternhaus in Great Neck im New Yorker Stadtteil Long Island auf das Ende der Ausgangssperre wartet. »So ist im Moment eben die Realität.«

mitstreiter Kantor und seine Mitstreiter widmeten die Ausstrahlung am 12. April auf YouTube dem Sänger und Songwriter Adam Schlesinger, der kürzlich im Alter von 52 Jahren nach Komplikationen an Covid-19 gestorben war.

Der Saturday Night Seder hat bisher Spenden in Höhe von knapp drei Millionen Dollar eingebracht. Das Geld kommt der CDC Foundation in Atlanta zugute, die das Coronavirus erforscht.

Kantor, der in einer Reformgemeinde aufgewachsen ist, bewegen vor allem die vielen 18-Dollar-Spenden. Die Zahl entspricht den hebräischen Buchstaben Chet und Jud, die das Wort »Chai«, Leben, ergeben. »Daran sehe ich, dass viele Juden das Gefühl von Zedaka erreicht hat«, sagt er. »Das macht mich stolz, jüdisch zu sein.«

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