Für eine klitzekleine Beruhigung sorgen die Veranstalter der Olympischen Winterspiele, die am Freitag in Peking beginnen: Die Olympia-App »My2022« soll eine Liste von über 2000 Begriffen enthalten, mit der Beleidigungen von Juden, Chinesen und – vor allem vermutlich – dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping sofort ermittelt und gemeldet werden können.
Aber das dürfte auch schon das Einzige sein, was sich lobend über diese App, ohne die sich während der Spiele kein Sportler, kein Tourist und kein Journalist vor die Tür trauen darf, sagen lässt. Mittlerweile steht fest, dass nicht nur Begriffe wie die Uiguren-Region »Xinjiang« oder das autonome Gebiet »Tibet« sofort gemeldet werden, wenn sie auf einem Smartphone Verwendung finden. Man weiß auch, dass sämtliche Audioaufnahmen auf chinesischen Servern gespeichert und ausgewertet werden.
Eiskunstlauf Das gilt auch für die Smartphones der wenigen Dutzend jüdischen Sportler, die für ihre Länder in Peking an den Start gehen. Also auch für das des Eiskunstläufers Jason Brown. Mit dem Team USA gewann er vor acht Jahren in Sotschi olympische Bronze. In Peking geht der 27-jährige Brown, zuletzt WM-Siebter, im erweiterten Favoritenkreis an den Start. Auffallen wird er dort, denn als Musik hat er sich den Soundtrack von Schindlers Liste ausgesucht. »Das ist ein Stück, zu dem ich so viele Jahre lang laufen wollte«, sagte Brown jüngst, »aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich reif genug war, um dazu so zu laufen, wie ich es mir einmal vorgestellt hatte.«
Seit die Deutsche Katarina Witt 1994 zu Musik aus Schindlers Liste getanzt hatte, wurde das Motiv schon häufiger auf dem olympischen Eis verwendet – allerdings stets von nichtjüdischen Eisläufern. »Mein Hintergrund ist natürlich jüdisch, und die Geschichte ist so berührend«, sagt Brown. »Es ist ein Musikstück, das mir so viel bedeutet, und offensichtlich gilt das auch für die jüdische Gemeinschaft.«
Dass Brown, der in seiner Sportlerkarriere meist zu Musical- und Popsongs getanzt hat, sich nun für ein Stück aus Schindlers Liste entschied, hängt mit dem Jahr 2016 zusammen. Da hatte er Israel besucht, die Gedenkstätte Yad Vashem, aber auch das Strandleben von Tel Aviv, und all das zusammengenommen vertiefte in ihm das Gefühl, Teil der jüdischen Gemeinschaft zu sein. »Es war eine großartige Gelegenheit, einen Schritt zur Seite zu treten und einfach mal ein Kind zu sein«, erzählte er in einem Interview. »Diese Erfahrung wird immer zu meinen schönsten Erinnerungen gehören.«
coming-out Jason Brown dürfte nicht nur im Team USA zu den Stars gehören – nicht zuletzt, weil er erst vor einem Jahr sein Coming-out hatte und offen über seine Homosexualität spricht. Viele Barrieren habe er überwunden, sagt Brown, nun habe er »wirklich zu mir selbst gefunden«.
Zur Selbstfindung und Erfahrung gehört nicht nur sein Bekenntnis zum Schwulsein. Auch die Art, wie er die leistungssportliche Krise verarbeitete, in die er gerutscht war, nachdem er, der doch als Riesentalent galt, 2018 die Olympiaqualifikation verpasst hatte, gehört dazu. »Ich habe eine Entwicklung durchgemacht, ich habe versucht, mein Selbstwertgefühl wieder aufzurichten und meine Identität außerhalb der Maßstäbe zu finden, die ich mir bis dahin selbst gesetzt hatte.«
Er suchte sich einen neuen Trainer, genauer: zwei Trainerinnen, die er in Kanada fand. Mit denen arbeitete er ein Programm aus, das die Teilnahme in Peking zum Höhepunkt hatte. Nun ist Jason Brown mit seinen 27 Jahren der älteste Sportler bei den Eiskunstläufern des Teams USA. »Ich freue mich darauf, alles, was ich auf meinem Weg gelernt habe, umzusetzen«, sagt Brown heute.
jeschiwa Erfahrung gepaart mit Talent – ein solches Duo wird für Israel aufs Eis gehen, wobei das junge Talent im Eislaufpaar, die 19-jährige Hailey Kops, im amerikanischen New Jersey lebt und von dort stammt.
Aber da die orthodoxe Jüdin ein Jahr lang in Jerusalem auf einer Jeschiwa war und auch den israelischen Pass erhielt, wird sie in Peking für den jüdischen Staat antreten. Ihr Partner ist der 33-jährige Evgeni Krasnopolski, für den Peking bereits die dritten Olympischen Spiele darstellen. Außer im russischen Sotschi 2014 war er auch 2018 im südkoreanischen Pyeongchang dabei.
Ist Jason Brown ein Star in der Gay Community, so ist es Hailey Kops in der jüdischen Gemeinschaft. Eigentlich hatte sie bereits mit dem Eiskunstlaufen aufgehört und sich in einer Krankenpflegeschule in den USA angemeldet, als aus Israel die Offerte kam, noch einmal ins Training einzusteigen. Genau genommen, kam die Offerte aus der Nachbarschaft, aus New Jersey, denn Boris Chait, der Präsident des israelischen Eislaufverbands, lebt in den USA.
Leistungssport betreiben und zugleich Schabbat halten, das ist für Hailey Kops ganz normal.
Für Kops passte alles: Sie kehrte zum Wettkampfsport zurück, mit Krasnopolski fand sie den passenden Eispartner – »ihn als Partner zu haben, bedeutet auch, ihn als Mentor zu haben« –, und bei einem internationalen Wettkampf im deutschen Oberstdorf, der »Nebelhorn Trophy«, belegten die beiden Platz fünf. Das reichte für einen Startplatz in Peking.
Dort finden ihre Wettkämpfe dienstags und donnerstags statt, am 15. und 17. Februar – das bringt Kops also zum Glück in keine Bredouillen, denn trotz der Zwänge des modernen Leistungssports hält Hailey Kops den Schabbat. »Von klein auf habe ich beides miteinander verbunden«, sagt sie. »Das ist für mich ganz normal.«
Trainerin Ohnehin will sie nicht um jeden Preis beim Eiskunstlauf dabei sein. Die Europameisterschaften in Estland sagte das Paar im letzten Moment ab, weil es nicht das Risiko eingehen wollte, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Die Pandemie ist auch der Grund, warum Kops’ Eltern – ihre Mutter war bis zu Haileys 16. Lebensjahr ihre Trainerin – nicht nach Peking mitreisen. »Ich wünschte, ich könnte dort sein, um sie zu unterstützen«, vertraute Lisa Kops der Nachrichtenagentur JTA an.
Inspiriert wurde sie, sagt Hailey Kops, von einem elfjährigen israelischen Mädchen, ein Pflegekind, das sie in ihrer Zeit in Jerusalem betreut hatte. Das Mädchen ist nun Kops’ größter Fan und verbreitet auf YouTube lauter Videos seines Stars. »Eigentlich ist es verrückt, dass ein elfjähriges Mädchen mich inspirieren kann.«
Auffallen wollen in Peking auch die Szöllös-Geschwister aus Israel.
In Ungarn gebürtig, mischen Noa und Barnabás gemeinsam mit ihrem Bruder Benjamin, der es nicht nach Peking geschafft hat, den alpinen Skizirkus auf. Schon Vater Peter fuhr professionell Skirennen, zunächst für Ungarn, nach der Alija auch für Israel. Noa ist die kleine Schwester von Benjamin und Barnabás, und die 18-Jährige gilt als das größte Talent sowohl der Familie Szöllös – als auch des israelischen Wintersports.
Sie gewann bei den Olympischen Jugendspielen 2020 in Lausanne einmal Silber und einmal Bronze, und zwar in der Kombination und im Super-G. Es waren die ersten Wintermedaillen in der Geschichte des jüdischen Staates. »Es ist ein starkes Gefühl, mein Land auf diese Weise vertreten zu können«, gibt sich Noa stolz.
kanada Neben den insgesamt sechs israelischen Startern sind noch etwa ein Dutzend weitere jüdische Sportler und Sportlerinnen am Start – nicht alle so glamourös wie Brown und Kops. Das Gros der jüdischen Athleten kommt aus den USA und Kanada. Etwa Emery Lehman, ein Eisschnellläufer aus Chicago. Für den 25-Jährigen sind es auch schon seine dritten Olympischen Spiele.
Als Favorit über die Langstrecken 5000 und 10.000 Meter geht Lehman nicht an den Start, aber er hofft auf seine Erfahrung als einer der »old guys in the team«, wie er sagt.
Der Snowboarder Taylor Gold aus Colorado ist schon 28 Jahre alt, aber vor vier Jahren fehlte er wegen einer Verletzung. Damals konnte der Teilnehmer von 2014 immerhin seine jüngere Schwester Arielle anfeuern, die als Snowboarderin in der Halfpipe olympische Bronze gewann. Zum Kreis der Favoriten wird Gold nicht gezählt, aber er hält zumindest die Familientradition des erstklassigen Skifahrens hoch: Schon Golds Vater Ken war Profifahrer auf Buckelpisten.
eishockeycracks Mit Josh Ho-Sang, Devon Levi und Jason Demers werden im favorisierten Team Canada gleich drei jüdische Eishockeycracks auflaufen. Demers spielt derzeit beim russischen Klub Ak Bars Kazan in der KHL, der russischen Konkurrenz zur mächtigen NHL in Kanada und den USA. Die NHL lässt ihre Profis in diesem Jahr nicht zu Olympia reisen. Josh Ho-Sang, der jamaikanische und chinesische Wurzeln hat, spielt entsprechend aktuell nicht in der NHL, sondern eine Stufe darunter, in der AHL bei den Toronto Marlies. Devon Levi, einer der Torwarte des Team Canada, spielt noch in einer College-Mannschaft, nämlich bei den Northeastern University Huskies.
Ho-Sang, Demers und Levi sorgen gemeinsam dafür, dass die diesjährige kanadische Eishockeyauswahl das jüdischste Team in Peking sein wird. Vielleicht muss das Trio ja im Olympischen Turnier gegen David Warsofsky vom Team USA antreten. Der 31-Jährige aus Denver/Colorado hat viel NHL-Erfahrung, spielt aber derzeit in Deutschland für den ERC Ingolstadt.
Sich auf dem Eis zu treffen, dürfte in jedem Fall eine bessere Idee sein, als sich beispielsweise in einer App-Gruppe auf »My2022« auszutauschen.