Vergangenheit – das ist für Semmy Stahlhammer nicht das, was einmal war. »Es kann auch die Zukunft sein«, sagt der 65-Jährige. Er sitzt an einem Sommertag auf einer Bank vor dem Büro des Plattenlabels Cugate in Berlin-Schöneberg. Die Corona-Krise ist an jenem Nachmittag im Jahr 2019 noch weit entfernt. Semmy Stahlhammer weiß noch nichts von den abgesagten Konzerten, den einsamen Stunden im Proberaum und davon, dass seine Musik demnächst nur noch auf YouTube und Facebook erklingen wird. Noch kann er reisen und Konzerte geben.
Bis vor Kurzem war in der Kiezkneipe noch ein Ladengeschäft beheimatet. Nun dreht sich dort alles um Musik und deren Vermarktung. Die Neueröffnung der Niederlassung wird mit Häppchen und Drinks gefeiert, das Stahlhammer Klezmer Classic Trio bildet den musikalischen Rahmen.
Das Trio baut auf der Tradition der 1910 gegründeten Stahlhammer Klezmer Band auf. Das sei die Band seines Großvaters gewesen, von dessen Brüdern und Freunden, sagt Semmy Stahlhammer. In großer Besetzung spielten sie auf Festen und Tanzveranstaltungen und sorgten für gute Stimmung. Im polnischen Krásnik waren sie stadtbekannt. Bis der Zweite Weltkrieg kam. Da änderte sich für die Juden von Krásnik alles.
SOMMERHAUS »Mein Vater hat mir immer viel erzählt«, sagt der Violinist. Im Sommerhaus in Schweden saßen sie oft im Garten, Vater Mischa erinnerte sich an seine Kindheit und Jugend sowie an seinen Neuanfang mit 25 Jahren in Eskilstuna, einer Stadt mehr als 100 Kilometer westlich von Stockholm.
»Als kleiner Junge sah ich es als selbstverständlich an, dass meine Familie eine war wie jede andere«, schreibt Semmy Stahlhammer im Vorwort zu seinem Buch Codename Barber. Doch allmählich begann er, sich zu wundern. »Warum war mein Vater so nervös und unruhig? Tagsüber arbeitete er unermüdlich, im Schlaf hatte er schreckliche Träume.«
Die Biografie seines Vaters hat der Musiker 2007 zuerst auf Schwedisch veröffentlicht, 2010 kam die englische Übersetzung heraus. Seit 2018 gibt es das Buch auf Russisch. Während des Konzerts in Schöneberg liegen die verschiedenen Ausgaben gestapelt auf einem Tisch, daneben die CD In Memory des Klezmer-Trios.
Die tiefe Verwurzelung mit seiner Familie spürt er immer, wenn er auf der Bühne steht.
Sieben Jahre hat der langjährige Erste Konzertmeister der Königlichen Schwedischen Oper an Mischas Geschichte geschrieben, dreimal hat er sie überarbeitet. Auch Fotografien und Originaldokumente sind darin abgedruckt.
Entstanden ist eine bewegende, realistische, bedrückende Biografie, geschrieben aus der Sicht des Vaters. Die Ich-Perspektive macht Codename Barber zu einem sehr lebendigen Zeugnis der Vergangenheit. »Ich habe das Buch zu Ehren meines Vaters geschrieben – und für meine Kinder. Die hören mir doch nie richtig zu«, sagt Semmy Stahlhammer. »Auf diesem Weg kann ich ihnen davon wirklich erzählen, mit allen harten Fakten, die es braucht.«
In Auszügen erzählt er in Schöneberg, begleitend zum Konzert, dem Publikum aus Mischas Leben, von seinem einfachen Zuhause, aus dem er stammt, seinen vielen Geschwistern, Onkeln und Tanten, von Konzentrations- und Arbeitslagern, in denen fast seine ganze Familie ermordet wurde. Nur sein Halbbruder Leib und sein Bruder Hersh überlebten die Schoa.
Es geht um die Arbeitserlaubnis des Vaters, die ihn vor dem Tod rettet, seine Flucht aus dem Zwangsarbeitslager, seinen Kampf bei den Partisanen und seine Zeit als Krankenpfleger bei der Roten Armee. »Es ist eine unglaubliche Geschichte«, sagt Semmy Stahlhammer.
NEUANFANG 1000 Leben scheint sein Vater bereits gelebt – und überlebt – zu haben, als er 1948, schwer an Tuberkulose erkrankt, in Schweden ankommt, wo er auf seine Brüder trifft. Die Familienzusammenführung ist allerdings nur von kurzer Dauer, Leib und Hersh wird der Ausreiseantrag in die USA bewilligt. Mischa bekommt ihn nicht. Er bleibt allein, bis er seiner späteren Frau Sonja begegnet. Ihre Liebe rettet beide vor der Einsamkeit.
»Sonja wurde in Gostynin in Polen geboren, sie wuchs in Zgierz, einer Kleinstadt bei Łódz, auf. Ihr Großvater, Schlomo Yehuda Ben Cohen, war ein bekannter Rabbi, Autor und Philosoph. Seine Bücher, verfasst auf Hebräisch, sind in israelischen und amerikanischen Büchereien zu finden.
Die Musik seines Großvaters Zisel spielt Semmy Stahlhammer bereits seit 20 Jahren.
Außer Sonja und einer Cousine ersten Grades hat keiner aus der Familie den Krieg überlebt«, heißt es im letzten Kapitel von Semmys Buch. »Die britischen Streitkräfte befreiten Sonja aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen. In einem Bus des Roten Kreuzes reiste sie über Kopenhagen nach Malmö in Schweden, wo sie in einem Flüchtlingslager unterkam.«
Die Musik seines Großvaters Zisel spiele er bereits seit 20 Jahren, sagt Semmy Stahlhammer. »Wir geben mit der Band größere Konzerte, sind aber auch auf Barmizwa-Feiern, Geburtstagen, privaten Veranstaltungen und Hochzeiten – wie die Original-Band vor knapp 100 Jahren.« Zum Klezmer-Trio gehören heute außerdem Isabel Blommé am Cello und die Akkordeonistin Miriam Oldenburg.
Das Publikum im Cugate-Büro ist angetan von Semmy Stahlhammers Geschichten und der Musik. Im Anschluss suchen die Zuhörer das Gespräch mit ihm, wollen mehr über ihn und seine Familie erfahren. Sitzbänke und -tische sind auf dem breiten Bürgersteig aufgestellt. Pizza wird geliefert. Kollegen aus dem Musikgeschäft stoßen in die bunt gemischte Runde, Nachbarn aus dem Hinterhaus werden zum Bleiben eingeladen. So füllt sich der Bürgersteig weiter mit Menschen. Semmy Stahlhammer ist immer irgendwo zwischen ihnen.
Mischas Großmutter zog Zähne, erstellte Diagnosen, mischte Pasten an.
Titelgebend für die Biografie seines Vaters ist dessen Partisanen-Pseudonym »Barber«, zu Deutsch »Friseur«. In einem Dokument der sogenannten Volksarmee, datiert auf den 31. Juli 1944, heißt es: »Sztalhamer Moniek, Codename Friseur, geboren am 16.10.1923 in der Stadt Krásnik, Kreis Krásnik, ist ein Soldat der Armia Ludowa. Er hat das Recht, das rot-weiße Band mit den Initialen AL zu tragen, und ist mit dem Maschinengewehr MP Nr. 7457 bewaffnet.« Das Schreiben habe Mischa als Ausweis und Lebensversicherung gedient, er habe es sorgfältig aufgehoben, schreibt sein Sohn Semmy.
SALON Den Beruf des Friseurs übten in der Familie Stahlhammer mehrere Generationen aus, wobei zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch mehr dazu gehörte, als Haare zu schneiden. »Die Friseur-Chirurgen wurden meist von den Armen in Anspruch genommen; in weniger komplizierten Fällen konnten sie als Arzt-Ersatz dienen«, heißt es in Codename Barber. Mischas Großmutter zog Zähne, erstellte Diagnosen, mischte Pasten an.
»Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges brach in Krásnik eine Krätze-Epidemie aus. Großmutter hatte eine wirksame Heilung. Sie mixte 200 Gramm Schweinefett, 50 Gramm pulverisierten Schwefel, 10 Gramm Teer und 10 Tropfen Karbolsäure zu einer Salbe. Ich half beim Sammeln und Mischen der Zutaten, deshalb kann ich mich an das Rezept so gut erinnern«, erfährt der Leser aus der Biografie.
Zudem führte die Familie einen Friseursalon. »An den Wänden hingen Banjos in verschiedenen Größen, Mandolinen, Gitarren, Violinen, ein Cello, ein Bass, große und kleine Trommeln, Tamburine und Becken. Wir spielten für uns allein und gemeinsam, wenn wir keine Kunden hatten oder am Abend nach Ladenschluss«, schreibt Semmy Stahlhammer. Dort liest man weiter: »Die Musiktradition stammte von meinem Großvater, der Violine und Gitarre spielte. Vater lehrte uns das Mandolinen- und Gitarrenspiel, das Singen und Sich-selbst-Begleiten. Wir erhielten keine formale musikalische Ausbildung; die Instrumente und die Musik waren natürlicher Bestandteil unseres Lebens, unser Erbe.«
ERBE Dieses Erbe führt Semmy Stahlhammer seit Kindheitstagen fort. Er kam eines Tages von einem Sommercamp nach Hause und griff nach der Mandoline, die im Wohnzimmer stand, erinnert sich der 65-Jährige. Aus der Mandoline wurde später die Geige: Er spielte sie, sein Vater pflegte sie, reparierte die Bögen. Mit 45 Jahren eröffnete Mischa Stahlhammer ein kleines Geigenbauatelier, nachdem er zuvor aus gesundheitlichen Gründen den 1958 eröffneten Friseurladen abgeben musste. »Heute sitze ich in dem Atelier und repariere Instrumente«, sagt Semmy Stahlhammer.
Die tiefe Verwurzelung in seiner Familie spüre er immer, wenn er auf der Bühne stehe, sagt der Musiker. »Manchmal denke ich, ein Dibbuk sucht mich heim, der Geist eines Toten. Ich glaube zwar nicht daran, trotzdem habe ich das Gefühl, ich müsse richtigstellen, was schiefgelaufen ist.«
»Dass alles gut wird – diese Hoffnung können wir uns nicht leisten.«
Im Buch über seinen Vater spürt er dem nach. Wie sind die Verbrechen an Millionen Juden in Europa möglich gewesen? Der Schwede beschreibt in der Biografie einen tief verankerten, von Generation zu Generation weitergegebenen Antisemitismus in Krásnik.
Bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs habe er zum Alltag gehört. Umso wichtiger sei die jüdische Community gewesen. »Trotz Verfolgung, Armut und Arbeitslosigkeit lebten wir, auf unsere Weise, in einer sicheren Welt. Wir hatten uns«, schreibt Semmy Stahlhammer.
JUDENHASS Draußen – da lauerten zum Beispiel katholische Mitschüler auf Mischa, um ihn und seine jüdischen Freunde zusammenzuschlagen; da kamen katholische Polizisten in den Friseurladen der Stahlhammers, um ihnen zu drohen und sie zu erpressen.
Der Judenhass sei bis in die 30er-Jahre hauptsächlich »auf die engstirnigen, vorurteilsvollen und politischen Bibel-Interpretationen der Kirche und der Priester zurückzuführen« gewesen, meint Semmy Stahlhammer. Durch die politische Agenda der Nazis sowie des polnischen Präsidenten Ignacy Moscicki sei der Hass der polnischen Katholiken weiter gewachsen; das Ende des Zweiten Weltkriegs habe diesen nicht aus der Welt geschafft.
Im Kapitel »Rückkehr nach Krásnik« schildert Semmy Stahlhammer die ernüchternden Erlebnisse seines Vaters: Der Friseursalon der Stahlhammers gehörte nun den Kaczynskis, sie hatten eine Parfümerie daraus gemacht und waren nicht gewillt, den Laden an Mischa zurückzugeben oder ihm die Miete der vergangenen Jahre zu bezahlen.
»Manchmal denke ich, ein Dibbuk sucht mich heim, der Geist eines Toten. Ich glaube zwar nicht daran, trotzdem habe ich das Gefühl, ich müsse richtigstellen, was schiefgelaufen ist.«
Wenn ihm Bekannte begegneten, begrüßten sie ihn mit dem Satz: »Du lebst immer noch.« »Sie formulierten das nicht als eine Frage oder Aussage, es lag irgendwo dazwischen und erinnerte mich ein weiteres Mal daran, dass ich aus Polen weg muss«, heißt es in Codename Barber.
Mit Blick auf die gegenwärtigen politischen Entwicklungen in Europa und den USA bekommt Semmy Stahlhammer ein mulmiges Gefühl, was die Zukunft betrifft. »Ich mache mir viele Gedanken. Wie gesagt – die Vergangenheit kann auch zur Zukunft werden. Gerade steht es fifty-fifty.« Dessen möge sich jeder bewusst sein, wünscht er sich. »Dass alles gut wird – diese Hoffnung allein können wir uns nicht leisten.« Das ist seine Botschaft, die er mithilfe seines Buches und des Trios in die Welt bringen möchte.