Beim Empfang eine Bitte der 94-jährigen Dame an der Türschwelle im Nordlondoner Viertel Belize Park: »Setzen Sie sich bitte schon mal ins Wohnzimmer, ich muss noch eine E-Mail fertig schreiben.«
Vorbei an Postern der studentischen Revolution von 1968 in Paris, über die Hella Pick einst berichtete, geht es in ein lichtdurchflutetes Wohnzimmer mit großzügigem Blick auf Hinterhofgärten. In einem Baum sitzt ein grünes Papageienpärchen. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Buch über die Briefe Joseph Roths, in den Regalen reihen sich Bücher über Menschen aus der Politik des 20. Jahrhunderts: Helmut Schmidt, Lord Mountbatten, Hafiz al-Assad, Natan Scharansky, Indira Gandhi, Bill Clinton.
Feines Porzellan, an den Wänden Gemälde. Sie zeigen osteuropäische Motive, Geistliche beim Genuss von Wein und Bergmotive aus dem englischen Lake District, wo Hella Pick einst lebte. Das Gemälde einer grauen Steinwand des Malers Julian Cooper sei ihr Lieblingsbild, gesteht sie später. Frühlingsnarzissen, Tulpen und Orchideen bringen Leben ins Zimmer.
VERDIENSTORDEN Die 1929 in Wien geborene, mit einem britischen Verdienstorden ausgezeichnete Journalistin hat in ihrem Leben viele der ganz großen Persönlichkeiten der politischen Weltbühne getroffen. Als sie noch für das »West Africa Magazins« arbeitete, waren es Politiker wie Kwame Nkrumah, Ahmed Sékou Touré, Ndamdi Azikiwe und Léopold Sédar Senghor, die ihre Länder in die Unabhängigkeit geführt hatten. Später traf sie für die britische Tageszeitung »The Guardian« politische Giganten wie die Kennedy-Brüder, Michail Gorbatschow, Lech Wałęsa und Willy Brandt treffen.
Die in Wien geborene Journalistin traf viele der großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.
Pick berichtete über die Kubakrise genauso wie über Martin Luther Kings Protestmarsch von Selma nach Montgomery und die letzten Jahrzehnte der Sowjetstaaten, wo sie unter anderem Nicolae Ceaușescu interviewte. Über ihr Leben und ihre Karriere als Korrespondentin hat sie eine Autobiografie geschrieben, die 2022 auf Deutsch erschien.
Über das Erlebte gibt sich Pick bescheiden: »Ich war einfach nur Reporterin«, sagt sie, obwohl John F. Kennedy sie einst mit offenen Armen empfing und Willy Brandt mit ihr einen langen Abend in lebhafter Diskussion verbrachte. Nein, sie habe sogar viel erlebt, das von Grund auf langweilig gewesen sei, etwa die Berichterstattung über die Reden und Erklärungen der Vereinten Nationen. Vor dem Zeitalter des Internets sei der Aufwand dabei oft immens gewesen. Für sie war ihre Anwesenheit bei wichtigen historischen Momenten des 20. Jahrhunderts nur ein »Nebenprodukt« ihres Berufs.
VORURTEILE Als Studentin der London School of Economics (LSE) mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen – womit sie »den Plänen jener« zuvorkam, die meinten, sie solle Lehrerin werden – begeisterte sich Pick für amerikanische Politik. Während ihres Studiums wie auch in ihrer Karriere war sie eine Frau, die sich gegen Vorurteile in der männlich dominierten Berufswelt durchsetzte. Ihr Buch gibt viele Einzelheiten dieser Karriere wieder, darunter, wie sie zu Beginn ihrer Tätigkeit als US-Korrespondentin ein von ihrem Vorgänger vollkommen leergeräumtes Büro ohne Archiv und Kontakte vorfand. Zum Glück eilten ihr Kollegen zu Hilfe.
Pick musste sich auch gegen Schicksalsschläge behaupten. Das zentrale Erlebnis ihrer Kindheit war die erzwungene Emigration. 1939 gelangte sie im Alter von elf Jahren im Zuge der sogenannten Kindertransporte nach London. Ihre Mutter war in Wien verblieben. Als diese zu ihrer eigenen Überraschung von den Vorladungen der Gestapo zurückkehrte, konnte sie der Tochter wenige Monate später folgen. Für Picks Großmutter Olga, welche die Familie nach dem Anschluss Österreichs vorsichtshalber nach Prag geschickt hatte, kam die Einreiseerlaubnis nach England jedoch zu spät. Sie wurde ermordet. Der von ihrer Mutter getrennt lebende Vater konnte in die USA fliehen, hatte aber kein Interesse am Kontakt mit seiner Tochter.
Hella Pick und ihre Mutter, die das Visum auf der Grundlage einer Anstellung als Haushaltshilfe bekommen hatte, mussten zunächst getrennt voneinander leben. Doch schon bald konnte die Mutter im Haushalt des LSE-Akademikers Theodore Chorley arbeiten – weil er Apfelstrudel und andere Wiener Köstlichkeiten liebte. Pick verbrachte den Rest der Kriegsjahre auf dessen Landgut im englischen Lake District, wo ihr eine solide Schulerziehung ermöglicht wurde.
MAUERN Die Tatsache, dass sie jüdisch und Flüchtlingskind war, verdrängte sie dabei. Auch während ihrer späteren Karriere als Journalistin sprach sie wenig darüber. »Ich bin bei meiner Arbeit nie bewusst als Jüdin aufgetreten, und das Thema war nie Gegenstand des Gesprächs«, erzählt sie. Ganz anders heute, wo sie gerade in Österreich über ihre Autobiografie als Flüchtlingskind wahrgenommen werde, das es nach Jahren der relativen Armut in England zu etwas gebracht hat. Und doch sei da stets etwas gewesen, das Pick als »unsichtbare Mauern« bezeichnet – so lautet auch der Titel ihrer Autobiografie.
»Ich bin etwas unsicher aufgrund der Tatsache, dass ich entwurzelt war, nicht jedoch, weil die Deutschen und Österreicher, mit denen ich Umgang habe, mich als etwas Besonderes erachten.« Dieses Gefühl sei seit dem Brexit stärker geworden, den sie mit den gleichen Worten ihre Vertreibung aus Österreich beschreibt: »Entwurzelnd! Niederträchtiger Nationalismus und Patriotismus beunruhigen mich.« Das insular denkende England sei wegen ihrer Tätigkeit für den »Guardian« zwar ihr Zuhause geworden, aber es hätte auch Amerika werden können. Großbritannien sei nun das Land geworden, demgegenüber sie die stärksten Gefühle hege.
Pick sieht ihre Arbeit keineswegs als beendet. Auch mit 94 Jahren denkt sie an ein weiteres Buch.
Und wie hält sie es mit dem Judentum? Ein religiöses Leben habe sie als Agnostikerin nie angezogen, und auch ihre Mutter und ihr Vater hätten säkular gelebt. Und doch spiele sie seit Jahren mit dem Gedanken, ihrer nächstgelegenen progressiven Synagogengemeinde beizutreten. »Nicht des Gottesdienstes halber, sondern wegen Freunden und aus Solidarität«, sagt sie. »Dieser Tage fühle ich mehr und mehr, dass das Jüdischsein Teil meiner Identität ist. Ich bedauere, dass ich mich nicht schon früher damit auseinandergesetzt habe.«
Zwei jüdische Menschen spielen in ihrer Karriere eine besondere Rolle: der berühmte Nazijäger Simon Wiesenthal, dessen Biografie sie 1996 schrieb. Dies habe ihre Verbindung zur jüdischen Kultur vertieft. Und der Kampf gegen den Antisemitismus wiederum sei der Grund gewesen, weshalb sie mit dem Publizisten und Philanthropen George Weidenfeld lange zusammenarbeitete.
Über ihre Liebe zu zwei Männern, Narendra Singh, Sohn eines Maharadschas, und später dem damaligen LSE-Direktor Ralf Dahrendorf, will Pick gegenüber der Jüdischen Allgemeinen nicht sprechen, obwohl sie in ihrer Autobiografie darüber genauso schreibt, wie über ihr nie veröffentlichtes Buch über Shah Karim al-Husseini, den Aga Khan der Ismaeliten.
Pick sieht ihre Arbeit trotz ihres Alters keineswegs als beendet an. Es gebe sogar Dinge, die sie mit 94 Jahren überhaupt erst beginnen möchte. Der Gedanke an ein weiteres Buch schwebe da in der Luft. »Ich muss beschäftigt bleiben«, insistiert sie – fast schon ungeduldig.