»Entrepreneurship« zeichnet die Vereinigten Staaten besonders aus. Die Übersetzung »Gründerkultur« ist nicht ausreichend, um die Haltung hinter diesem Begriff zu verstehen: Projekte werden umgesetzt, es entstehen ganze Unternehmen – trotz der Gefahr, dass es vielleicht auch nicht funktionieren könnte. Eine Idee, die nicht zum Erfolg geführt hat, ist in Amerika keine Niederlage, sondern etwas, aus dem man fürs nächste Mal lernen kann.
Ein sehr erfolgreiches jüdisches Projekt ist die Webseite Sefaria.org, die unter anderem die Texte des gesamten Tanach, der Mischna und des Talmuds im Original sowie in Übersetzungen anbietet, auch in Deutsch. Einer der Köpfe hinter Sefaria ist der Journalist Joshua Foer. Er konzipierte die Website gemeinsam mit dem Google-Entwickler Brett Lockspeiser.
Das Lehrhaus soll ein Ort ohne konkrete Bindung zu einer Strömung und offen für alle sein.
Mit einem anderen Freund, dem Rabbiner Charlie Schwartz, arbeitet Foer gerade an einem neuen Projekt. Auch dabei geht es um jüdische Texte. Doch diesmal offline. In Somerville im Großraum Boston, Heimat der viertgrößten jüdischen Gemeinde in den USA, eröffnen die beiden in Kürze ein jüdisches Lehrhaus, eine jüdische Bibliothek, ein Café und eine Bar. Allerdings nicht nacheinander, sondern alles in einem Projekt. Interessenten können sich in ein »Bejt Midrash« einschreiben und allein oder im traditionellen Chewruta-Verfahren tagsüber mit einem Partner lernen.
Am Nachmittag wird das Lehrhaus dann für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Es soll eine klassische Bar geben mit koscherer Speisekarte (Fisch, aber kein Fleisch), die von Bostoner Gastronomen erstellt wurde. Auch während dieser Zeit werden stets Menschen ansprechbar sein, die man zu jüdischen Inhalten befragen kann. Am Schabbat ist das Lehrhaus geschlossen.
Das Wort »Lehrhaus« wird dabei wortwörtlich genutzt – in seinem deutschen Ursprung. Denn die Lehrhaus-Idee stammt aus Deutschland. Der Philosoph Franz Rosenzweig gründete 1920 in Frankfurt das erste »Freie Jüdische Lehrhaus«, in dem er allen einen freien Zugang zu jüdischem Wissen anbieten wollte. »Frei« für alle Interessierten aller Strömungen und Bildungsgrade.
Jüdinnen und Juden sollten zusammenkommen und jüdische Quelltexte studieren und diskutieren. Die Texte sollten nicht allein Objekte akademischer Betrachtung sein, sondern als lebendiges Erbe empfunden werden. »Geistiges Leben innerhalb einer lebendigen Religion« sollte erhalten bleiben – gerade auch außerhalb des formellen Beit Midrasch. Auch Jüdinnen und Juden, die der Tradition fern waren, konnten hier ihr Wissen erweitern und vertiefen und auf diese Weise ihre jüdische Identität erkunden. Für die damalige Zeit ein gänzlich neuer Ansatz.
tradition An genau diese Tradition möchte Charlie Schwartz, ehemaliger Rabbiner von Hillel International, jetzt anknüpfen: Das Lehrhaus soll ein Ort ohne konkrete Bindung zu einer festgelegten jüdischen Strömung sein und auch keine Mitglieder für diese oder jene Gruppe gewinnen.
Der Jüdischen Allgemeinen sagte Rabbi Schwartz: »Das Lehrhaus ist keine Outreach-Organisation im traditionellen Wortsinn. Unser Ziel ist es, jüdisches Lernen und vor allem Chewruta in der jüdischen Gemeinschaft und darüber hinaus bekannter zu machen. In dieser Hinsicht ist das Lehrhaus viel näher am Frankfurter Lehrhaus, das sich auf Traditionen und Texte stützt und diese nutzt, um eine sinnstiftende Verbindung zur modernen Welt herzustellen.«
Im Fokus steht zunächst jene Generation, die von den Campus-Projekten nicht mehr erfasst wird, weil sie die Universität gerade verlassen hat. »Unsere primäre Zielgruppe sind die jungen Juden, die gerade die Uni abgeschlossen haben, sowie ihre Freunde, die auf der Suche nach einer Gemeinschaft, etwas Bedeutungsvollem und einem guten Drink sind«, sagt Schwartz.
In vielen Gemeinden fällt diese Gruppe durch das Raster der Programme. Häufig werden die Absolventen erst wieder Ziel von Programmen für »junge Eltern«.
FOKUS Diese Gruppe in den Fokus zu nehmen, bedeute jedoch nicht, dass andere Menschen nicht willkommen seien. »Im Kern ist das Lehrhaus offen für alle«, betont Rabbi Schwartz. »Unser Ziel ist es, dass diejenigen, die sich für jüdisches Lernen interessieren oder einfach neugierig sind, sich am meisten engagieren, obwohl eine große Anzahl von Menschen wegen des Essens, der Getränke und der Gemeinschaft kommt und sich vielleicht gar nicht am Lernen beteiligt.«
Warum aber entsteht das Lehrhaus dann nicht in New York, der Stadt mit der größten jüdischen Zielgruppe? Die Auswahl sei, so Schwartz, nicht zufällig: »Wir gehen davon aus, dass ein etwas kleinerer Markt wie Boston eine Einrichtung wie das Lehrhaus besser tragen kann als größere Gemeinden. Denn dort gibt es ja auch viele andere Möglichkeiten, jüdische Texte zu studieren.«
Tagsüber wird im traditionellen Chewruta-Verfahren zusammen mit einem Partner gelernt.
Da das Lehrhaus eine Idee aus Frankfurt ist, steht die Frage im Raum, ob Schwartz sich, im Falle eines Erfolgs, auch eine Expansion nach Deutschland vorstellen könne. »Unser Ziel ist es jetzt, das Lehrhaus in Somerville zu etablieren und dann über ein Wachstum in den USA nachzudenken«, sagt der Rabbiner. »Könnte das Lehrhaus in Israel oder sogar in Frankfurt aufblühen? Das wäre ein toller Gedanke, davon kann man derzeit aber nur träumen!«
Bevor es so weit ist, wird das Lehrhaus demnächst neben der »Dali Tapasbar« und gegenüber von »Broadsheet Coffee Roasters« eröffnen – zehn Minuten Fußweg von der renommierten Harvard Law School entfernt. www.lehr.hausWas dann folgt, wird die Zukunft zeigen.