Tagelang stieg der Pegel des Flusses Dnipro. Überflutete Orte, Straßen, Felder, überschwemmte Getreidelager. Nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine am 6. Juni sind die Überflutungsgebiete evakuiert worden. Mehr als 40.000 Menschen sind von den Überschwemmungen betroffen, Dutzende gelten als vermisst. Inzwischen gehen die Wassermassen zurück, doch es bleiben Trümmer und Verwüstung. Etliche Dörfer sind zerstört, Zehntausende Menschen haben weder Strom noch sauberes Wasser, die ukrainischen Behörden rechnen mit Schäden in Milliardenhöhe.
Am schwierigsten ist die Lage im Südosten der Großstadt Cherson. Tausende Einwohner waren zur Flucht gezwungen, darunter Dutzende Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Eine von ihnen ist Tatjana Kovler. »Ich habe mir unsere Dokumente und unsere beiden Hunde geschnappt und bin hinausgegangen. Ich konnte sehen, wie das Wasser von Minute zu Minute stieg«, sagt die 52-jährige Sozialarbeiterin im Gespräch mit »Times of Israel«.
überschwemmungsgebiet Sie habe große Angst um ihre Hunde gehabt, betont sie, »die wären ertrunken, wenn ich sie nicht ins Trockene und aus dem Überschwemmungsgebiet herausgebracht hätte«. Sie fuhr die Hunde zu einer befreundeten Familie und flog mit ihrem Mann Alexey nach Odessa. In der Schwarzmeerstadt lebt sie jetzt in einem Hotelzimmer, das ihr Arbeitgeber, die amerikanisch-jüdische Hilfsorganisation Joint (JDC), bezahlt.
Ein kleiner Stab des Joint ist weiterhin vor Ort, andere koordinieren die Hilfe von Odessa aus.
Kovler arbeitet seit 2008 für den Joint und kümmert sich um ältere Menschen und andere Hilfsbedürftige. Trotz des russischen Krieges war sie in Cherson geblieben. »Ich tat es wegen der Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind«, sagt sie im Gespräch mit israelischen Journalisten. In Zeiten, da die Versorgung mit Strom und Medikamenten häufig unterbrochen ist und man mit einer knappen staatlichen Rente von durchschnittlich 140 Euro auskommen muss, »konnte ich diese Menschen nicht einfach im Stich lassen, als sich die Umstände verschlechterten«.
Doch die Überschwemmung zwang sie jetzt, Cherson zu verlassen. Von Odessa aus koordiniert sie nun die Hilfe. Sie ist in ständigem Kontakt mit den bedürftigen Menschen, für die sie zuständig ist. »Etliche brauchen Medikamente, einige brauchen Windeln.« Es gebe »einen kleinen, engagierten Stab des JDC«, der weiterhin in Cherson ist und diese Menschen vor Ort betreue, sagt Kovler der »Times of Israel«.
Auch Kovlers Arbeitsstelle, das »Hesed«-Büro in Cherson, wurde überflutet. Die Mitarbeiter hatten Akten und Computer vorausschauend in die örtliche Chabad-Synagoge ausgelagert, von der man nicht erwartete, dass sie von den Überschwemmungen betroffen sein würde, da sie 20 Meter über dem Wasserspiegel liegt.
CHABAD In der Synagoge amtiert Chersons Oberrabbiner Yosef Itzhak Wolff. Auch er hilft den Betroffenen. »Wir stehen in regelmäßigem Kontakt mit den Gemeindemitgliedern, die vor den Fluten geflohen sind«, sagt er im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Der heute 50-Jährige kam 1993 als Schaliach der chassidischen Bewegung Chabad Lubawitsch nach Cherson und wurde 1998 zum Oberrabbiner der Stadt und der Region Cherson gewählt.
Die Gemeinde unterstütze die geflüchteten Familien, betont Wolff. »Wir haben ihnen bei der Suche nach alternativen Unterkünften geholfen.« Einige seien bei anderen jüdischen Familien untergekommen, manche in Gemeinschaftsunterkünften, »und wir versuchen, dasselbe auf dem Land zu tun, wo es auch Juden gibt«, so der Rabbiner. Darüber hinaus sammelt Wolffs Gemeinde Decken, Kleidung und andere lebensnotwendige Dinge, um auch nichtjüdischen Familien und Einzelpersonen zu helfen, die ihre Häuser verlassen mussten.
Cherson ist derzeit eine der am stärksten bombardierten Städte der Ukraine außerhalb der Donbass-Region. Mehr als acht Monate stand die Stadt unter russischer Besatzung, im vergangenen November wurde sie von der ukrainischen Armee befreit. Doch die Explosion des Wasserkraftwerks Kachowka hat die humanitäre Lage in der Stadt weiter verschlechtert.
Seit mehr als 200 Jahren leben Juden in der Gegend um Cherson. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Stadt zu einem der wichtigsten Zentren der Chabad-Bewegung in den südlichen Provinzen Russlands. 1897 lebten rund 17.500 Juden in Cherson, rund 30 Prozent der Bevölkerung, 1920 waren es gar 37 Prozent. In der Schoa wurden mehr als 12.000 Juden aus Cherson ermordet.
FLUCHT Vor dem russischen Angriffskrieg zählte die Gemeinde noch rund 4000 Mitglieder, doch inzwischen ist sie stark geschrumpft. Rund 80 Prozent der Mitglieder verließen die Stadt bereits vor dem Bruch des Staudamms. Zurückgeblieben sind nur 700 bis 800 Menschen, sagt Wolff. Die übrigen leben seit dem Krieg über die ganze Welt verstreut – einige halten sich vorübergehend in der Westukraine auf, andere sind nach Israel, in Länder der Europäischen Union oder in die Vereinigten Staaten und Kanada geflohen.
Das Leben derjenigen, die geblieben sind, sei hart, sagt Rabbi Wolff. »Aber die Gemeinschaft hilft mit Lebensmitteln und Medikamenten, und für Alte und Kranke gibt es nach wie vor einen häuslichen Pflegedienst.« Außerdem seien fast alle Lebensmittelgeschäfte geöffnet – »doch die Preise sind deutlich gestiegen«.
Fast jede Woche, sagt der Rabbiner, werde die Stadt von russischen Truppen beschossen. »Es kann zu jeder Tageszeit passieren, aber normalerweise kommen die Angriffe in Wellen – zwei Tage bleibt es ruhig, und dann ist es drei Tage wieder sehr laut.« Unter den Gemeindemitgliedern gebe es bislang keine Opfer, »aber die Häuser einiger Juden wurden beschädigt: Fensterscheiben gingen zu Bruch, Wände wurden durch Granatsplitter beschädigt«.
evakuierungen Trotz der Überflutung beschossen die russischen Truppen in den vergangenen Tagen weiterhin die zerstörten Gebiete, in denen die Evakuierungen im Gange waren.
Einen dieser Angriffe erlebte auch der ukrainische Oberrabbiner Moshe Reuven Asman. Er brachte gerade Hilfsgüter in einen von den Überschwemmungen betroffenen Stadtteil Chersons. »Die Granate landete nur wenige Meter von mir entfernt«, schrieb er bei Facebook. »Gott sei Dank ist sie in den Fluss gefallen, sonst …« Es sei nicht das erste Mal in seinem Leben gewesen, dass er unter Beschuss geraten sei, schreibt Asman weiter, »aber ich war noch nie auf einem so kleinen Stück Land«.
Ein Rabbiner verteilte gerade Hilfsgüter, als in der Nähe eine russische Granate einschlug.
Infolge der Überschwemmungen können einige Regionen kein Trinkwasser mehr aus den Dnipro-Wasserreservoirs erhalten. »Die Schadstoffkonzentration im Wasser ist dutzendfach höher als die zulässige Norm«, heißt es bei der regionalen Militärverwaltung von Cherson. »Brunnen und offene Wasserreservoirs in überschwemmten Gebieten können Chemikalien und Erreger von Infektionskrankheiten enthalten, die von Friedhöfen, Toiletten und überschwemmten Mülldeponien stammen.«
schäden Tatjana Kovler und ihr Mann warten indes darauf, nach Cherson zurückzukehren. Wie groß die Schäden an ihrem Haus sind, das derzeit nur per Boot zu erreichen ist, wissen sie nicht. Möglicherweise kann es nicht mehr repariert werden.
»Warum habe ich dies und jenes nicht mitgenommen?«, fragt sie sich im Gespräch mit der »Times of Israel«. »Aber dann erinnere ich mich daran, dass ich das habe, was wirklich wichtig ist: meinen Mann, meine Hunde und die Unterstützung des JDC und der Gemeinde«, sagt sie.
Dass sie nach Cherson zurückkehren wird, stehe für sie fest, sagt sie den Journalisten. »Wir haben dort unser Leben, wir haben dort unsere Verantwortung. Und wenn unser Haus ruiniert ist, dann bauen wir es eben wieder auf.«