Ukraine

Chassiden? Nein, danke!

Marat Strakowski und Anatoli Schengait sitzen im Computerraum einer kleinen Wohnung in der Kiewer Altstadt. 1989, als es die Sowjetunion noch gab, wurde hier die erste jüdische Bibliothek in der UdSSR eröffnet. Heute wird sie von der Stadt Kiew betrieben. »Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut«, sagt Strakowski, ein junger Computertechniker, der die Rechner der Bücherei betreut.

Anatoli Schengait, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Kiew, bringt regelmäßig Zeitungen vorbei. Heute ärgert er sich über einen Artikel im »Kiewski Vestnik«. Dort steht in großen Lettern: »Problem Uman: ›Sucht euch ein anderes Kloster‹«. Gemeint sind die vielen Tausend chassidischen Pilger, die an Rosch Haschana in die ukrainische Stadt Uman reisen, um am Grab von Rabbi Nachman zu beten.

groll In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Spannungen zwischen der Bevölkerung und den Gästen. Im Jahr 2011 besuchten mehr als 120.000 Pilger die zentralukrainische Provinzstadt, rund 30.000 von ihnen kamen an Rosch Haschana. Die Stadt gerät dann immer in einen Ausnahmezustand, den viele der rund 85.000 Einwohner Umans nicht mehr wollen. Zwar überlassen sie den Pilgern gerne Schlafplätze und verlangen horrende Preise für ein Bett, doch der Groll gegen die Fremden ist groß.

Im 18. Jahrhundert kam es in Uman zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung. Kosakenführer Iwan Honta überfiel die Stadt und massakrierte die polnischen Gutsverwalter und die Juden. Im Zweiten Weltkrieg eroberten die Deutschen die Stadt, nicht wenige der ukrainischen Bewohner unterstützten die Nazis beim Ermorden von Juden. Rund 6.000 jüdische Einwohner kamen damals ums Leben.

Der junge Staat Ukraine hat mehrere dieser dunklen Kapitel zu verarbeiten, doch davon wollen nur wenige etwas wissen. Das Leben in der Ex-Sowjetrepublik ist beschwerlich. Das Durchschnittseinkommen liegt bei rund 280 Euro im Monat, wie bei der Verwaltungsangestellten Olga, die in einem neungeschössigen Plattenbau in Uman lebt. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR wurde in das Haus fast nichts mehr investiert. Die Fenster sind undicht, der Fahrstuhl streikt, im Sommer wird das Wasser wochenlang abgestellt, um die maroden Rohre zu schonen.

Angst Doch fremdes Geld aus dem Westen macht Olga Angst. »Die wollen sich bei uns breitmachen, damit wir für einen Hungerlohn für sie schuften«, empört sich die 54-Jährige. Im vergangenen Jahr hat sie mit ihrer Schwester in einem Schnellrestaurant für die Rosch-Haschana-Pilger gearbeitet. »Wir wurden von amerikanischen Vorarbeitern angewiesen, das mache ich nie wieder«, wettert sie .

In dem riesigen Kantinenzelt haben rund 8.000 Menschen Platz, während der Neujahrsfeiertage wird in drei Schichten gekocht und gegessen. Die Idee dazu hatte der amerikanisch-jüdische Unternehmer Tzvi Bogomilski. Er betreibt in Florida mehrere Altenheime und würde Uman gern als Tourismuszentrum für Pilger ausbauen.

Auch Anatoli Schengait gefällt die Idee. »Die Stadt hat so viele Sehenswürdigkeiten, einen schönen alten Park und gute Verkehrsanbindungen – das wäre perfekt für diese Art von Tourismus«, sagt er. Den Wirtschaftsfaktor Fremdenverkehr hat inzwischen auch die große Politik entdeckt – und möchte den Kuchen möglichst unter sich aufteilen. Investoren aus den USA oder der EU lehnt man ab, nicht nur in Uman, sondern vielerorts im Land.

Rechtsradikal Manchmal bedient man sich dann auch der rechtsradikalen Szene. Immer wieder kommt es in Uman zu Aufmärschen der nationalistischen Swoboda-Partei. »Allerdings beteiligen sich an den Demonstrationen viele, die gar nicht in Uman leben«, sagt Schengait. So auch in diesem Frühjahr, als ein Streit um das Kantinenzelt eskalierte.

Es steht auf einem Gelände, durch das eine Zufahrtsstraße zu den Wohnhäusern der Puschkinstraße führt. Der Veranstalter wollte, dass die Straße während der Feiertage ganz oder teilweise gesperrt wird. Einige Anwohner hatten daraufhin einen Antrag gestellt, dass die Straße auch während des Neujahrsfestes offen bleibt. Der Streit landete Ende April vor Gericht, doch das Urteil lässt bis heute auf sich warten. Für Anatoli Schengait ist das ein Beweis für »den Unwillen zum Kompromiss«.

Eigentlich hätten alle etwas von der Anziehungskraft Umans haben können: die Einwohner, die an den Touristen verdienen würden, und die Pilger, die sich nicht mehr für 300 Euro pro Nacht in enge Sieben-Bett-Zimmer einpferchen lassen müssen. »Doch leider sind wir noch nicht so weit«, sagt Schengait.

geduld Wie in den vergangenen Jahren pilgern auch diesmal an Rosch Haschana wieder Tausende Juden nach Uman. Auf dem Flughafen der ukrainischen Hauptstadt Kiew steht für die Charterflüge der Chassiden ein kompletter Terminal bereit. Mit dem Bus geht es dann weiter ins rund 250 Kilometer entfernte Uman. Für die Einwohner der Stadt ist dann nichts mehr wie sonst. »Ich fahre dieses Jahr zu meiner Cousine nach Tscherkassy«, sagt Olga. Ihre Einzimmerwohnung will sie in der Zeit an fünf Amerikaner vermieten. »Mein Bruder organisiert das, er hat mehr Geduld für so etwas, weil er schon ein paar Jahre im Ausland gearbeitet hat«, sagt sie.

Marat Strakowski findet: »Wir Ukrainer müssen lernen, mit anderen Kulturen und Religionen auszukommen, das ist nicht immer leicht, aber es muss sein.« Er will das Neujahrsfest mit seiner Familie zu Hause in Kiew feiern. »Ich habe das Grab von Rabbi Nachman auch schon besucht«, sagt er, »aber nicht zu Rosch Haschana.«

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