Mit einem Fanfarenstoß soll es losgehen. Dann werden sich Theater- und Spielzüge aus vier entlegenen Stadtteilen Breslaus auf den Weg zum Rathausplatz machen und als »Stadtgeister« die Geschichte der niederschlesischen Großstadt zu neuem Leben erwecken. Drei Tage soll der Umzug dauern – vom 15. bis 17. Januar.
Auch die jüdische Geschichte soll zur Sprache kommen, die deutsch-jüdische wie auch die polnisch-jüdische. Doch unter die Vorfreude der Breslauer hat sich Angst gemischt. Denn neben den vier guten Stadtgeistern »Wiederaufbau, viele Religionen, Solidarität und wirtschaftliche Innovation« könnte sich nächstes Wochenende auch ein Ungeist auf den Weg ins Stadtzentrum machen: der braune Mob.
»Judenpuppe« Vor Kurzem erst gingen die Bilder um die Welt: Rechtsradikale fackelten vor dem berühmten Breslauer Rathaus die lebensgroße Puppe eines orthodoxen Juden ab. Millionen Menschen sahen im Fernsehen, wie in der polnischen Stadt die Schläfenlocken, der schwarze Hut und Kaftan sowie die Europaflagge der »Judenpuppe« in Flammen aufgingen.
Anna Szarycz, stellvertretende Stadtpräsidentin von Breslau, wiegelt ab: »Das war ein Einzelfall.« Die 50-jährige, für Gesundheit und Soziales zuständige Beamtin findet es unfair, »uns jetzt das Etikett ›braun‹ anzukleben. Wir sind eine offene und tolerante Stadt«. Direkt nach dem, wie sie es nennt, »Zwischenfall« habe sich Stadtpräsident Rafal Dutkiewicz ganz klar von den Nationalisten distanziert. Xenophobie und Rassenhass hätten in Breslau keinen Platz. »Außerdem erstattete er Anzeige bei der Staatsanwaltschaft«, so Szarycz weiter. »Was kann man mehr tun?«
Karol Lewkowicz, der frühere Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Breslau, schüttelt den Kopf. »Man muss mehr tun!«, sagt er. Zunächst will er aber klarstellen, dass die Beziehungen zwischen Stadtverwaltung und Gemeinde ganz ausgezeichnet seien: »Wir haben in Rafal Dutkiewicz immer einen wohlwollenden und hilfsbereiten Ansprechpartner.«
Um gegen die neueste Welle des Rechtsradikalismus in Polen anzugehen, müsse man die Ursachen analysieren. »Neben den Hooligans und politischen Spinnern haben wir es heute mit einer ganz neuen Gruppe zu tun«, sagt Lewkowicz und blinzelt in die Wintersonne. »Das sind Hochschulabsolventen, die hohe Ansprüche ans Leben haben, dann hart auf dem Boden der Realität landen und nach Schuldigen für ihren Misserfolg suchen.« Die meisten der rund 140.000 in Breslau Studierenden würden den Absprung schaffen, erläutert er. »Aber die jungen Leute heute haben nach ihren effizienten Kurzzeitstudien kaum noch Allgemeinbildung. Sie können oft nicht unterscheiden zwischen Fakten und Mythen, suchen im Internet nach Erklärungen – und laufen am Ende politischen Rattenfängern hinterher. Das ist die Gefahr!«
Image Im kleinen koscheren Café an der ulica Wlodkowica, der früheren Wallstraße, will sich niemand ausmalen, was eine Demonstration der Rechtsradikalen während des Kulturhauptstadtjahres bedeuten könnte. »Es würde das Ansehen der Stadt auf Jahre hin ruinieren«, meint Tomek, der nur wenige 100 Meter weiter im neuen Musikforum arbeitet. »Ich komme gern hierher«, sagt der 28-Jährige und deutet auf Karottenkuchen und Kaffee: »Alles bestens.« Seine Freundin Sabina nickt: »Noch können wir auf Polizisten oder Sicherheitsleute vor der Synagoge verzichten. Die Überwachungskameras reichen aus. Hoffen wir, dass es so bleibt.«
In den Regalen an den Wänden des Cafés stehen Romane und Erzählungen zum Schmökern, aber auch Nachschlagewerke, Bilderbücher und Zeitschriften. Die Sprachen sind bunt gemischt: Polnisch, Hebräisch, Jiddisch, Englisch, Deutsch und Norwegisch. Ein paar Bücher wie auch die Gemeindezeitschrift »Chidusz« kann man kaufen. Nebenan gibt es eine Kantine, in der mittags koschere Mahlzeiten für Gemeindemitglieder ausgegeben werden.
Der eigentliche Prachtbau im Hinterhof der ulica Wlodkowica ist die restaurierte und hell strahlende »Synagoge zum Weißen Storch«. Mit dem Bau des klassizistischen Gebäudes hatte die liberale Gemeinde Anfang des 19. Jahrhunderts den preußischen Architekten Carl Ferdinand Langhans beauftragt. Bis in die 30er-Jahre hinein war Breslau mit rund 25.000 Juden die drittgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands.
Neben den deutschen Juden, die sich mehr und mehr der liberalen Gemeinde anschlossen, lebten in Breslau auch rund 2000 polnische Juden, die sich in einer eigenen orthodoxen Gemeinde organisierten.
In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstörten die Nazis fast alle Synagogen und kleineren Bethäuser in der Stadt. Die Storchensynagoge überstand das Fanal nur deshalb, weil das Feuer im Hinterhof leicht auf die umliegenden Häuser hätte übergreifen können.
Heute ist die Gemeinde mit ihren rund 350 Mitgliedern orthodox. Nach der in Warschau ist die Breslauer Gemeinde die zweitgrößte im Land. Insgesamt sind in Polens jüdischen Gemeinden knapp 1700 Mitglieder registriert. Bei der letzten Volkszählung gaben hingegen mehr als 7000 Menschen an, sich als Juden zu fühlen. Schätzungen zufolge leben in Polen bis zu 20.000 Juden. Die meisten von ihnen sind nicht religiös.
Bente-Kahan-Stiftung Dass die Adresse »ul. Wlodkowica 7« immer mehr zu einer kulturellen Visitenkarte Breslaus wird und mehr und mehr Besucher anlockt, ist Bente Kahan zu verdanken. Seit 2001 lebt die norwegische Jüdin gemeinsam mit ihrem Mann Aleksander Gleichgewicht in der Odermetropole. Kennenglernt haben sich die beiden in Norwegen. Während des Kriegszustands in Polen Anfang der 80er-Jahre war der aktive Bürgerrechtler, der sich in der Gewerkschafts- und Freiheitsbewegung Solidarnosc engagiert hatte, nach Norwegen emigriert.
Als sie in seine Heimat zurückkamen, war die Synagoge noch eine halbe Ruine. »Konzerte oder Kulturveranstaltungen konnte man dort nicht organisieren«, sagt die Sängerin und Schauspielerin. »Nach Rücksprache mit der Gemeinde gründete ich die Bente-Kahan-Stiftung, stellte Förderanträge bei der Stadt, verschiedenen Ministerien, der EU – und restaurierte mit der Gemeinde die Synagoge.«
Die quirlige 57-Jährige freut sich. »Vor Kurzem«, sagt sie, »ist nun auch die ›Szul‹ fertig geworden, unser kleiner Betraum mit den fantastischen Deckenmalereien.« Im selben Gebäude befindet sich die alte große Mikwe, sie soll als Nächstes restauriert werden.
Während des Kulturhauptstadtjahrs soll auch die Storchensynagoge Schauplatz von Konzerten, Lesungen und Gedenkveranstaltungen werden. Die Idee zum Musikfestival »Jiddisch und Ladino«, das die Kahan-Stiftung Anfang Mai mit dem Institut für Jüdische Studien an der Universität Wroclaw ausrichten wird, geht ebenfalls auf die Sängerin zurück. Das Festival soll eine Brücke ins spanische San Sebastian schlagen, der zweiten Kulturhauptstadt Europas 2016. Sefardische Juden sollen in Breslau gemeinsam mit aschkenasischen musizieren und sich gegenseitig inspirieren.
Ins Kulturhauptstadt-Programm aufgenommen wurde auch das Bruno-Schulz-Literaturfestival, das nach dem jüdischen Maler und Schriftsteller aus dem polnisch-galizischen Drohobycz benannt wurde. Das seit Jahren in Breslau etablierte Festival will sich im Oktober 2016 mit dem Themenschwerpunkt »Grenze« befassen.
Premiere Am Ende des Kulturhauptstadtjahres wird die Premiere eines Dokumentarfilms über die letzten noch lebenden deutschen Juden Breslaus einen ganz besonderen Höhepunkt bilden (vgl. Jüdische Allgemeine vom 17. Dezember 2015). Die Regisseure Karin Kaper und Dirk Szuszies haben Zeitzeugen in Israel, den USA, Großbritannien, Deutschland und anderen Ländern befragt. Einige der inzwischen hochbetagten Breslauer Juden kamen für die Dreharbeiten eigens in die heute polnische Stadt Wroclaw, um ihre Geschichte noch einmal an den Originalschauplätzen zu erzählen.
Die »Spaziergänge auf den jüdischen Spuren Breslaus« gehören zwar nicht zum offiziellen Programm, sind aber eine gute Ergänzung für alle Besucher der Odermetropole. Obligatorisch gehören immer auch Abstecher zu den beiden erhaltenen jüdischen Friedhöfen dazu. Der alte an der ulica Slezna (ehemals Lohestraße) ist heute als Museum für Friedhofskunst Teil des Breslauer Stadtmuseums und wirkt wie eine eigene kleine Stadt. Das berühmteste Grabmal ist wohl das des Sozialdemokraten Ferdinand Lassalle. Aber auch der Neue Jüdische Friedhof an der ulica Lotnicza (früher Flughafenstraße) lohnt einen Abstecher. Hier beeindruckt ein großes Denkmal für die knapp 500 jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs.
Apps Zurück im Zentrum Breslaus: In der im Retro-Hipster-Stil renovierten Milchbar »Barbara« in der ulica Swidnicka 8b herrscht Hochbetrieb. Nach wie vor gibt es Essen »wie bei Muttern«, allerdings ist hier auch der zentrale Infopunkt für das Kulturhauptstadtjahr untergebracht. Hier gibt es Programmhefte, Broschüren, aktuelle Information, Internetstationen, Hilfe beim Downloaden spezieller Breslau-Apps – und in einem hinteren Raum Lesungen, Diskussionen, Vorträge.
Die jungen Leute sind freundlich, hilfsbereit und mehrsprachig. Doch wenn man sie auf die politische Stimmung in der Stadt und den »braunen Mob« anspricht, der das Kulturhauptstadtjahr zu seiner Bühne umfunktionieren könnte, schütteln sie nur den Kopf und lächeln die Frage weg. »Wir reden hier nicht über Politik, nur über Kunst und Kultur«, meint etwa eine der jungen Mitarbeiterinnen, die nicht mit Namen genannt werden will.
Yaron Karol Becker, ein Intellektueller aus Tel Aviv, der 1957 mit seinen Eltern aus Polen nach Israel emigrierte, aber seit einigen Jahren wieder in der südpolnischen Stadt Lublin wohnt, will zum Kulturhauptstadtjahr nach Breslau kommen. Der heute 75-Jährige engagiert sich seit vielen Jahren im polnisch-jüdischen und polnisch-israelischen Austausch.
Als Sechsjähriger ging er zum ersten Mal durch die Straßen Breslaus. »Ich erinnere mich an die Ruinen und an das Echo meiner Schritte.« Jetzt sei Breslau wiederaufgebaut und auch Polen ein ganz anderes Land. »Ich befürchte nur, dass die aktuelle Politik der PiS-Regierung zu einem autoritären Regime führen könnte. Das wäre für mich eine ungeheure Enttäuschung.«