Als Mark Neuman vor sieben Jahren am Peretz Center for Secular Jewish Culture in Vancouver seine Barmizwa feierte, las er weder aus der Tora noch trug er eine Kippa oder sprach Gebete. Vielmehr hielt er einen Vortrag über die Psychologie des jüdischen Humors. Der Barmizwa-Abschnitt seines Bruders Ben bestand aus einem Bericht über die Flucht ihres Großvaters aus Polen.
Typische Szenen für den Congress of Secular Jewish Organizations, eine locker zusammenhängende Gruppe von zwei Dutzend nordamerikanischen Gemeinden, denen jüdische Geschichte und Kultur wichtig sind, während sie die religiösen Bräuche, den Glauben und alles, was auch nur von Weitem nach Kultus aussieht, strikt meiden. Sie werden von Laien geleitet und legen mehr Wert auf Jiddisch als auf Hebräisch.
»Ich fühle mich jüdisch«, sagt Mark Neuman, der heute am Peretz Center unterrichtet. »Für mich bedeutet es, die Kultur zu erhalten. Es geht um die Geschichte, den Holocaust, die Feiertage, die Sprache – all das ist mir sehr wichtig. Doch an die religiösen Seiten glaube ich nicht.«
zulauf Der Säkulare Kongress, der dieses Jahr sein 40-jähriges Jubiläum feiert, ist klein, verglichen mit den größeren Synagogenbewegungen. Doch in einer Zeit, in der die meisten jüdischen Organisationen sich den Kopf darüber zerbrechen, was die jungen Leute wollen, legt er eine erstaunliche Fähigkeit an den Tag, das Interesse der kommenden Generation zu wecken und sie bei der Stange zu halten. Auf einer Regionalkonferenz säkularer Gemeinden an der Westküste erschienen kürzlich Familien mit Vertretern zweier, dreier, ja sogar vierer Generationen. »Unsere Generation wurde da hineingeboren«, sagt Mark Neuman.
»Wir sind uns im Klaren darüber, dass unsere Eltern und Großeltern sich der Sache eines säkularen Judentums verschrieben haben«, betont die 22-jährige Shoshana Seid-Green aus San Mateo, Kalifornien, die zusammen mit ihrer Schwester Ya’el die Regionalkonferenz leitete.
Es wird ganz bewusst versucht, die junge Generation an der Führung der Bewegung zu beteiligen. Junge Menschen sitzen im nationalen Vertretungsgremium, gewählt wiederum von Teenagern, die die Landeskonferenzen mitgestalten. Oftmals nehmen Teenager, Eltern und Großeltern bei diesen Versammlungen an den gleichen Sitzungen teil oder leiten sie. »Die jungen Menschen sind mit Leib und Seele bei der Sache, das ist nicht nur Schau«, sagt Rifke Feinstein, geschäftsführende Direktorin des Säkularen Kongresses.
Es scheint, dass der jüdische Säkularismus, der für viele amerikanische Juden im frühen 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielte, ein Comeback erlebt. Jonathan Sarna, Professor für amerikanisch-jüdische Geschichte an der Brandeis University, vertritt die These, die jungen amerikanischen Juden begründeten ihre Identität über die jüdische Kultur und Geschichte und die ethischen Werte des Judentums, während der Holocaust und Israel für sie an Bedeutung verlieren.
umfragen Juden sind weltlicher als die Amerikaner im Allgemeinen, und die Zahl der säkularen Juden wächst rapide: Gemäß dem American Religious Identification Survey für 2008 gaben 37 Prozent der Juden an, »keine Religion« zu haben, im Gegensatz zu 20 Prozent im Jahr 1990. Für die Amerikaner im Ganzen lag diese Zahl bei acht Prozent 1990; 2008 war sie auf 15 Prozent gestiegen.
Gemäß der Studie sind jüngere Juden säkularer als ihre Eltern. Sie sind es überwiegend, die sich in Scharen bei den neuen kulturellen Formen, in denen jüdische Identität Ausdruck findet, einfinden: Filmfeste, Musikkonzerte, Jiddischkurse. Der kleine, aber engagierte Kern jüdischer Säkularisten des Landes profitiert davon. Es werden zwar nicht mehr, doch ihre Organisationen schrumpfen auch nicht. Sowohl der Congress of Secular Jewish Organizations als auch die Society for Humanistic Judaism geben an, genauso viele Gemeinden zu vertreten wie vor zehn Jahren.
Shoshana Seid-Green nahm gemeinsam mit ihrer Schwester Ya’el, ihrer Mutter Debby Seid, ihrer Großmutter Ethel Seid und den Tanten Ruthy Seid und Rabbi Judith Seid, allesamt weltliche jüdische Aktivistinnen, an der Westküstenkonferenz teil. »Es gab keine Zeit, in der ich mich nicht engagiert habe«, sagt Shoshana, die, wie andere junge Leute auf der Konferenz, an ihrem College eine säkulare jüdische Organisation ins Leben gerufen hat.
Großmutter Ethel wuchs wie die meisten weltlichen Juden der ersten Generation in Amerika bei Eltern auf, die Labour-Zionisten waren. Sie besuchte sozialistisch orientierte Schulen und Sommerlager, wo Jiddisch gesprochen wurde. Sie erzog Judy, Ruthy und Debby im Sinne eines weltlichen Judentums, mit einer starken Bindung an jüdische Kultur, Geschichte und ethische Werte, doch ohne Religion.
Im Laufe der Jahre hat sich die strikte Einstellung gegenüber religiösen Bräuchen gelockert, zumindest gegenüber solchen, die eine kulturelle oder historische Verbindung haben. Judith, eine von zehn Rabbinern, die nicht religiös sind und vom Institute for Secular Humanistic Judiasm ordiniert wurden, erzählt, wie ihr Mann und sie nach der Hochzeit eine Menora kauften. Die erste Reaktion ihrer Großmutter sei gewesen: »Was ist denn mit dir los? Bist du religiös geworden?«
Säkulare Haggadah Auch Wendy Berenson Garcia wuchs in einem säkularen Elternhaus auf. Ihre Mutter, eine bekennende Atheistin, schrieb eine säkulare Pessach-Haggada, die jedweden Bezug auf Gott vermeidet. Von der Mutter, die aus Nazideutschland floh, hat sie eine starke jüdische Identität geerbt.