Vielen ungarischen Juden stößt es bitter auf, wenn sie ihre Staatsführung über den Holocaust und über den Antisemitismus der Gegenwart sprechen hören. In vage Pflichtformeln mischen sich oft Relativierungen und Verharmlosungen.
Doch neuerdings sind auch andere Töne zu hören. Gleich zwei Vertreter der Orbán Regierung, der Justiz und der Außenminister, sprachen Anfang Oktober auf einer Konferenz in Budapest ohne Wenn und Aber von der Verantwortung des ungarischen Staates und ungarischer Bürger für die Schoa. Charmeoffensive Es waren selten klare Bekenntnisse – und sie kamen nicht zufällig. Die ungarische Regierung möchte endlich ihr Image loswerden, sie verharmlose die Vergangenheit, wolle rechtsextreme Wähler an sich binden und grenze sich zu zaghaft von Antisemitismus ab.
Charmeoffensive Die große Gelegenheit dazu bietet sich bereits im kommenden Jahr: Im April 2014 jährt sich der Beginn des Holocausts an den ungarischen Juden zum 70. Mal. Anlässlich dessen hat die Orbán-Regierung das Jahr 2014 – einem Vorschlag des jüdischen Gemeindedachverbandes Mazsihisz folgend – zum Holocaust-Gedenkjahr erklärt. Zusammen mit den jüdischen Gemeinden und unter Beteiligung des israelischen Staates plant sie eine Vielzahl von Aktivitäten: Sie will landesweit Gedenkfeiern veranstalten, Synagogen renovieren lassen und in öffentlichen Einrichtungen die Erinnerungskultur fördern.
Das größte und symbolträchtigste Projekt wird ein Holocaust-Gedenk- und Bildungszentrum auf dem Gelände des ehemaligen Josefstädter Güterbahnhofs in Budapest sein – von hier aus wurden 1944 viele Juden deportiert. Das »Haus der Schicksale«, so der vorläufige Name der Gedenkstätte, versteht sich dabei nicht als Konkurrenz zum 2004 eingeweihten Holocaust-Memorial Pava Straße. Am Josefstädter Bahnhof soll vor allem an die jüdischen Kinder erinnert werden, die aus Ungarn abtransportiert wurden.
Was für das Gedenkjahr geplant ist, wäre mehr als alles, was in den 23 Jahren seit dem Ende der kommunistischen Diktatur unternommen wurde, um an die Vernichtung von 565.000 ungarischen Juden in nur neun Monaten zu erinnern. Und: Es wäre zugleich mehr als genug, um den Unmut vieler rechter Wähler der national-konservativen Regierungsmehrheit zu provozieren.
Aufarbeitung Trotz dieses Risikos steht die Orbán-Regierung – zumindest bisher – fest zu ihren Plänen. »Wir sind der Ansicht, dass der schmerzliche 70. Jahrestag des Holocausts keine weiteren Halbheiten mehr duldet und es nicht zulässt, dass die Geschichte weiter unaufgearbeitet bleibt«, sagt Janos Lazar, der einflussreiche Kanzleichef des ungarischen Ministerpräsidenten. In der Regierung koordiniert er die Aktivitäten für das Gedenkjahr. »Wir müssen uns der Vergangenheit aufrichtig stellen«, sagt Lazar.
Ressentiments Eine erstaunliche Haltung für eine Regierung, deren wichtigste ideologische Säule ein großungarischer, antieuropäischer Nationalismus ist und deren Rhetorik oft auf versteckte Weise antisemitische und antiziganistische Ressentiments bedient.
Doch gerade weil die Orbán-Regierung das Gedenkjahr so groß anlegt, beurteilen Vertreter der jüdischen Gemeinde die Initiative insgesamt positiv. »Ich bin des guten Glaubens, dass es der ungarischen Regierung ernst ist mit dem Gedenken an die Schoa«, sagt der Mazsihisz-Vorsitzende Andras Heisler. »Natürlich zieht sie aus den Aktivitäten des Gedenkjahres politischen Nutzen, aber wenn sie dadurch ein besseres Image bekommt, ist das auch für das ganze Land gut.«
Pfeilkreuzler Zugleich bleibt Heisler, wie viele Gemeindemitglieder, abwartend-skeptisch, was das zentrale Projekt für das Gedenkjahr angeht: das Holocaust-Gedenk- und Bildungszentrum am Josefstädter Bahnhof. Beauftragt mit der Konzeption wurde die als regierungsnah geltende Historikerin Maria Schmidt, die in Budapest das »Haus des Terrors« leitet. Eingeweiht 2002, wird dort an die Opfer der faschistischen Pfeilkreuzler und der kommunistischen Diktatur erinnert. Kritiker – darunter auch Vertreter der jüdischen Gemeinden – bemängeln, dass das Museum die beiden Formen totalitärer Herrschaft gleichsetze und die Opfer der kommunistischen Diktatur im Museum zudem deutlich im Vordergrund stünden.
Konzept Andererseits ist das »Haus des Terrors« das mit Abstand erfolgreichste ungarische Museum der Gegenwart – immerhin vier Millionen Besucher, überwiegend Ungarn, interessierten sich bislang für das Thema totalitärer Herrschaften. Maria Schmidt möchte mit dem »Haus der Schicksale« eine ähnlich große Resonanz erzielen.
Aus diesem Grund soll die Ermordung von Zehntausenden jüdischer Kinder aus Ungarn im Vordergrund stehen. »Wir müssen die Herzen der Besucher berühren, vor allem die der jungen Menschen«, sagt Maria Schmidt. »Die Tragödie des Holocausts muss für sie, die in der glücklichen Lage sind, Bürger eines freien demokratischen Landes zu sein, nacherlebbar werden.«
Tatsachen Schmidt will in dem neuen Gedenkzentrum zugleich die Geschichte derjenigen Ungarn erzählen, die Juden retteten und damit »positive Beispiele hervorheben«. Die Vertreter der jüdischen Gemeinden und Israels hoffen, dass dabei die historischen Tatsachen nicht umgedreht werden. »Es wurde viel mehr Energie in die Vernichtung der Juden investiert als in ihre Rettung«, sagt der israelische Botschafter in Budapest, Ilan Mor. »Das ist die reale geschichtliche Dimension – und die muss sich auch in einer Ausstellung widerspiegeln.«
Erwartungen Und wie geht es jenseits des Holocaust-Gedenkjahres weiter? Viele ungarische Juden wünschen sich praktische Konsequenzen für die Gegenwart, etwa, dass die Regierungsmehrheit sich konsequent vom Kult um den Reichsverweser Miklos Horthy abgrenzt, der für die Deportation von 437.000 Juden mitverantwortlich war.
Oder dass durch und durch antisemitische Schriftsteller der Zwischenkriegszeit in den Lehrplänen nicht mehr unreflektiert empfohlen werden. Beispielsweise Albert Wass, der in Rumänien wegen Kriegsverbrechen an rumänischen und jüdischen Zivilisten zum Tode verurteilt wurde und in Ungarn heute ein mit Dutzenden Statuen bedachter inoffizieller Nationaldichter ist. In Regierungskreisen bekommt man dazu die Standardantwort, die Bewertung historischer Figuren überlasse man Historikern.
»Fast nichts von dem, was an Wichtigem in der jüngeren ungarischen Geschichte geschah, ist öffentlich jemals richtig ausgesprochen worden«, kommentiert diese Haltung der ungarisch-israelische Publizist Peter Breuer, der auch als Projektberater für das »Haus der Schicksale« arbeitet. »Es muss endlich breite Debatten über die Rolle von Figuren wie Horthy geben«, fordert Breuer. Und es kann nicht sein, dass in Ungarn Statuen von Leuten aufgestellt werden, die einen Beitrag zur Schoa geleistet haben.«