Márton Vajda ist fast immer online. Das gehört für den 28-jährigen Eventmanager zum Job. Doch wenn er seine Mails oder das Facebook-Konto checkt, wird ihm manchmal mulmig. Denn immer häufiger bekommt er antisemitische Hassbotschaften – teilweise sehr persönliche Anfeindungen, manchmal sogar versehen mit seiner Adresse, Telefonnummer oder selbst dem Autokennzeichen seines Wagens.
Vajda ist einer von rund 150.000 Juden in Ungarn. Am vergangenen Sonntag war er Gast der 14. Vollversammlung des Jüdischen Weltkongresses. Dort traf er auf Delegierte aus mehr als 70 verschiedenen Ländern – unter anderem aus Israel, den USA, Namibia, Australien, dem Kosovo oder Panama –, die für drei Tage in die ungarische Hauptstadt gekommen sind. Das durch starke Polizeipräsenz gesicherte Tagungshotel Intercontinental liegt direkt am Donauufer, mit Blick auf Kettenbrücke und Budaer Burgviertel.
Hass Doch die Tagungsteilnehmer haben wenig Zeit für die schönen Seiten der Stadt. Intoleranz und Hass, die sich immer häufiger im Land zeigen, bestimmen ihr Programm. Der in Ungarn grassierende Antisemitismus ist das Thema, das die Gemeindevertreter, Politiker und auch die internationale Presse beschäftigt – 200 Journalisten sind akkreditiert.
Für Márton Vajda ist das keine abstrakte Frage, sondern ein sehr konkretes Problem. Er begegnet dem Alltagsantisemitismus auch auf den Straßen. »Dort sehe ich immer mehr Autos mit Aufklebern, die eindeutig rassistische und judenfeindliche Aussagen und Symbole haben«, sagt er. Vajda spricht von dem Gefühl, »dass sie uns hier nicht wollen«. Nicht alle Ungarn, nicht die Mehrheit, aber doch eine immer größer werdende Gruppe der Bevölkerung.
Jobbik Im Tagungshotel liegt eine Statistik aus: »Antisemitische Vorfälle in Ungarn im Jahr 2012«. Zu lesen ist vom Überfall zweier junger Männer auf einen Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde Budapest oder von der Rede eines Abgeordneten der rechtsextremen Jobbik-Partei im Parlament, der Ungarn »jüdischer Herkunft« registrieren lassen will, da sie ein »nationales Sicherheitsrisiko für Ungarn« darstellen würden. Eine erschreckende Bilanz verbaler Attacken, physischer Angriffe, von Vandalismus und mehr.
Die ungarischen Juden reagieren darauf unterschiedlich, sagt Márton Vajda. »Einige nehmen die Bedrohung nicht so ernst, andere machen sich Sorgen. Manche überlegen gar, ob sie das Land verlassen sollen.« Sind es viele? Er habe einige Freunde, die ernsthaft mit dem Gedanken spielten.
Auswandern Rabbiner Josh Spinner von der Ronald S. Lauder Foundation kennt die Situation in Budapest gut. Die Stiftung unterhält in der ungarischen Hauptstadt unter anderem die »Lauder Javne Jewish Community School« mit integriertem Kindergarten. Spinner berichtet, dass von den rund 600 Kindern im vergangenen Jahr 23 die Einrichtung verlassen hätten, weil sie mit ihren Eltern ins Ausland gezogen seien.
Dass Juden das Land verließen, habe nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Gründe, erwähnt der Präsident der Jüdischen Gemeinde Ungarns, Péter Feldmájer. Er betont, dass die Atmosphäre in den vergangenen Jahren sehr schlecht geworden sei. »Aber es gibt keine wirkliche Bedrohung. Wir sind nicht so gefährdet wie beispielsweise Juden in Frankreich oder auch in Deutschland.«
Es gebe eine sehr lebendige jüdische Gemeinschaft, und die sei mit rechtsextremen Tendenzen im Land konfrontiert, so Feldmájer. »Diese Leute denken, Juden sind an allem schuld. Ob es regnet oder die Sonne scheint, immer ist es die Schuld der Juden.« Insofern habe die WJC-Tagung eine besondere Bedeutung als wichtiges Zeichen gegen Antisemitismus und für die Unterstützung der Juden Ungarns.
Proteste Die Delegierten des Jüdischen Weltkongresses erlebten Regen und Sonnenschein in Budapest. Und am Vorabend der Tagung eine von Jobbik-Vertretern organisierte Protestkundgebung gegen den WJC-Kongress, mit judenfeindlichen und antizionistischen Parolen. Welchen Eindruck hinterlassen solche Ereignisse?
Serge Berdugo, Generalsekretär der Jüdischen Gemeinde Marokkos, sagt, dass er aus einem Land komme, in dem es keinen Antisemitismus gebe. »Denn dort sind wir alle Semiten, Muslime wie Juden.« In Bezug auf Ungarn, Europa und den Rest der Welt ist er der Meinung, dass Antisemitismus und Islamophobie gleichzeitig bekämpft werden müssen. »Denn das sind zwei Seiten der gleichen Medaille.«
Auch für Geoff Ramokgadi, Vorsitzender der jüdischen Gemeinschaft von Swasiland, der nur 14 Familien angehören, ist Judenhass in seiner Heimat kein Problem: »Es hat nur einmal eine einzige verbale Attacke gegeben. Aber wir haben mit dem Menschen gesprochen, er hat sich entschuldigt. Wir kommen gut miteinander aus.«
Ramokgadi meint, dass es im Kampf gegen das Phänomen Judenhass wichtig sei, einander kennenzulernen. So sei er bei einem Rundgang durch Budapest mit jungen ungarischen Straßenmusikern ins Gespräch gekommen. »Wir haben miteinander geredet und gesungen. Diese jungen Leute haben erfahren, wie nett Juden sein können.« Wer miteinander spreche, könne die Einstellung des Gegenübers verändern, meint er und fügt voller Optimismus hinzu: »Wenn du an einem solchen Treffen wie dem WJC-Kongress teilnimmst, dann ist es gut, wenn du mit einer positiven Einstellung kommst. Wenn du mit einer negativen Grundhaltung dabei bist, dann wirst du auch mit einer solchen wieder nach Hause fahren. Das ist es, was ich meinen jüdischen Brüdern immer sage.«
ziele Weit weniger optimistisch geben sich Rabbiner Yaakov Dov Bleich und Boris Fuchsmann, beide führende Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde der Ukraine. Bleich sagt, man sei mit zwei Zielen nach Budapest gekommen. »Zum einen wollten wir Solidarität zeigen, demonstrieren, dass wir an der Seite der ungarischen Juden stehen. Das haben wir auf jeden Fall erreicht.« Den Vorsatz jedoch, die ungarische Regierung dazu zu bringen, konkrete Schritte gegen Antisemitismus zu unternehmen, habe man nicht in die Tat umsetzen können. »Wir haben eine wunderschöne Rede von Ministerpräsident Orbán gehört, aber er hat nicht Tachles geredet. Er hat noch nicht einmal gesagt, was er gegen diese Jobbik-Leute unternehmen will.«
Boris Fuchsmann meint, es sei richtig, sich als jüdische Gemeinschaft nicht zu verstecken und das Signal auszusenden, »dass wir für den Kampf gegen Antisemitismus gewappnet sind«. Er würde es begrüßen, wenn eine nächste Sitzung des Jüdischen Weltkongresses in anderen betroffenen Ländern, zum Beispiel in der Ukraine, stattfinden könnte. In seiner Heimat sei die Situation »nicht besonders gut«, meint Fuchsmann. »Wir haben jetzt im ukrainischen Parlament eine Partei, die zehn Prozent der Stimmen hat und mit der NPD in Deutschland vergleichbar ist.« Der Antisemitismus komme langsam von unten nach oben, und die Regierung dulde diese Entwicklung. »Das ist sehr, sehr gefährlich«, sagt Fuchsmann.
Diese Meinung teilt auch Márton Vajda. »Hier in Ungarn ist der Antisemitismus inzwischen zu einer großen Bedrohung für unsere Gemeinde geworden«, ist er überzeugt. Seine Mutter, Vera Vadas, Direktorin des Jüdischen Sommerfestivals in Budapest, will auf keinen Fall klein beigeben. »Wir können das Land nicht einfach verlassen. Wir sind Juden, aber auch Ungarn. Und wir haben Israel und die jüdische Welt hinter uns.« Das zeige dieser Kongress, und das stimme sie zuversichtlich.
Man müsse nicht einmal Jude sein, um die Entwicklung in Ungarn bedrohlich zu finden, fügt Sohn Márton hinzu. »Alle liberal und positiv denkenden Menschen sollten sich darüber im Klaren sein«, meint er sorgenvoll. Und er hofft, dass die Versammlung des World Jewish Congress etwas in diesem Sinne bewegt hat.