Die La-Ghriba-Synagoge auf der tunesischen Urlaubsinsel Djerba begann sich am Abend langsam zu leeren. Hunderte Beter hatten sich dort am 9. Mai zum letzten Tag der berühmten Pilgerfahrt versammelt, die jedes Jahr zu Lag BaOmer stattfindet.
Unter ihnen auch der Franzose Benjamin Haddad und sein israelisch-tunesischer Cousin Aviel. Sie waren mit Freunden auf dem Weg zum Parkplatz, als sie von einem willkürlich um sich feuernden Attentäter erschossen wurden. Der Angehörige der Nationalgarde brachte insgesamt fünf Menschen um und verletzte fünf, bevor Polizisten ihn töteten.
»Als die Beter den Ort verließen, hörten wir dumpfe Geräusche und dachten zuerst an Kracher«, sagte Diane, eine Französin tunesischer Herkunft, die mit ihren Eltern in der Synagoge war. Einige seien weggerannt, andere hätten sich unter den Sitzen versteckt. »Es herrschte Panik, auch wenn es viel gegenseitige Unterstützung gab«, berichtete Diane der Zeitung »Libération«.
Das Attentat weckt Erinnerungen an den Selbstmordanschlag auf
die Synagoge 2002.
Dann seien die Beter informiert worden, dass es sich um einen Anschlag handelte. Die Sicherheitskräfte sperrten die Synagoge ab, wo die Menschen drei Stunden ausharren mussten, um sicherzustellen, dass kein weiterer Attentäter sie bedrohte. Der frühere tunesische Tourismusminister René Trabelsi, der selbst in der Synagoge war, sagte im Radio: »Ohne das schnelle Eingreifen der Sicherheitskräfte hätte sich ein Gemetzel ereignet.«
NATIONALGARDE Der etwa 30 Jahre alte Attentäter hatte seinen Angriff offenbar von langer Hand geplant. In Aghir an der Ostküste von Djerba tötete er erst einen seiner Kollegen der Nationalgarde und nahm ihm die Waffe sowie Dutzende Schuss Munition ab.
Dann fuhr er mit einem Quad der Küstenwache zur rund 20 Kilometer entfernten La-Ghriba-Synagoge. Dort fiel er einem Polizisten auf, der ihn stoppen wollte. Doch der Mann wurde von dem Angreifer so stark verletzt, dass er wenige Stunden später starb. Der Attentäter erschoss auch noch einen weiteren Polizisten.
Benjamin Haddad und sein Cousin, der in der Nähe der Synagoge ein Schmuckgeschäft hatte, sind die einzigen zivilen Todesopfer. Haddad hinterlässt in Marseille seine Frau, mit der er eine koschere Bäckerei betrieb, und vier Kinder.
In französischen Zeitungen ist das Foto eines bärtigen Mannes mit weißer Kippa zu sehen, der freundlich in die Kamera lächelt. Das israelitische Konsistorium von Marseille würdigte die Hilfsbereitschaft des Bäckers, der am Schabbat sein nicht verkauftes Brot an Bedürftige verschenkte. »Die ganze jüdische Gemeinde von Marseille ist in Trauer.«
Die tunesische Regierung weigerte sich zunächst, von einem gezielt gegen Jüdinnen und Juden gerichteten Anschlag zu sprechen. Und das, obwohl der Angreifer laut der Zeitung »Le Parisien« wenige Wochen zuvor wegen islamistischer Tendenzen aus der zur Armee gehörenden Nationalgarde ausgeschlossen worden war.
TERROR Das Attentat weckt Erinnerungen an das Jahr 2002, als die La-Ghriba-Synagoge schon einmal Ziel eines Anschlags war. Damals hatte ein Selbstmordattentäter einen mit 5000 Litern Flüssiggas beladenen Lastwagen in das Bethaus gesteuert. Bei der Explosion kamen 21 Menschen ums Leben, darunter 14 Deutsche. 30 weitere wurden verletzt. Das Terrornetzwerk Al-Qaida bekannte sich wenige Wochen später zu der Tat.
2015 folgte eine weitere islamistische Anschlagserie mit mehr als 70 Toten, die sich gegen das Bardo-Museum in Tunis, einen Badeort und einen Bus der Präsidentengarde richtete. Der Tourismus, Tunesiens wichtigste Einkommensquelle, erholte sich danach nur langsam.
Nach dem erneuten Attentat fürchtet die Regierung nun um die Sommersaison. Präsident Kaïs Saïed erklärte deshalb vergangene Woche: »Ich möchte dem tunesischen Volk, aber auch der Welt versichern, dass Tunesien immer ein sicheres Land bleiben wird trotz der verzweifelten Versuche Krimineller, es zu destabilisieren.«
Kaïs Saïed, der einen autokratischen Kurs verfolgt, vertritt offen pro-palästinensische Positionen. Am Abend seines Wahlsieges im Oktober 2019 rief er seinen Anhängern zu: »Ich hätte gern, dass die palästinensische Flagge an der Seite der tunesischen weht.« Gleichzeitig wehrt er sich aber gegen Vorwürfe des Antisemitismus. Er habe kein Problem mit den Juden, sagt er, sondern mit dem Zionismus, »der das palästinensische Volk ausrotten will«.
GEMEINDE Die jüdische Gemeinde in Tunesien hat nur noch rund 1500 Mitglieder. Die meisten von ihnen leben auf Djerba. Bevor die ehemalige Kolonie 1956 ihre Unabhängigkeit von Frankreich erlangte, waren es noch rund 100.000 gewesen. Doch da im Zuge des israelisch-palästinensischen Konflikts die Spannungen zunahmen, verließen in den 60er- und 70er-Jahren viele Jüdinnen und Juden das nordafrikanische Land.
Für die Auswanderer und ihre Kinder ist die jährliche Pilgerfahrt, bei der in der Regel ausgelassen gefeiert wird, der Anlass, die alte Heimat zu besuchen. In diesem Jahr hatten sich rund 5000 Beter versammelt, unter anderem aus den USA, Frankreich, Israel und Kanada.
»La Ghriba anzugreifen bedeutet, auf ein Symbol der Geschichte der Juden in Nordafrika zu zielen«, erklärte Yonathan Arfi, Vorsitzender des Dachverbands jüdischer Organisationen in Frankreich, CRIF. Er rief dazu auf, vor dem Terrorismus nicht zurückzuweichen – »weder in Djerba noch anderswo«.
Die La-Ghriba-Synagoge, die älteste Afrikas, soll im sechsten Jahrhundert v.d.Z. aus einem Stein des zerstörten salomonischen Tempels entstanden sein.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kündigte auf Twitter an: »Ohne nachzulassen werden wir immer gegen den antisemitischen Hass kämpfen.« Die französische Anti-Terror-Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen Mordes mit terroristischem Hintergrund auf. Außerdem verstärkte Innenminister Gérald Darmanin die Überwachung jüdischer Einrichtungen vor Schawuot Ende des Monats. Frankreich hat mit rund 500.000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde in Europa.