Im Westen macht die Ukraine keine großen Schlagzeilen mehr. Doch der Konflikt im Osten geht weiter, und auch die Krise im ganzen Land macht den einfachen Ukrainern das Leben schwer. Mit einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet 130 Euro monatlich und einer Durchschnittsrente von 70 Euro kommen viele Ukrainer kaum über die Runden. Die Arbeitslosigkeit wächst, und ein Ende des Krieges im Donbass ist nicht in Sicht. Auch das jüngste Ukraine-Gipfeltreffen Mitte Oktober in Berlin führte nur zu wenigen praktischen Ergebnissen. Eine echte Lösung des Konflikts ist nicht abzusehen.
Die Begeisterung der Maidan-Revolution ist vorüber. Aus der Ukraine ist wieder ein Land der Pessimisten geworden. Kein Wunder, denn von den Reformen, die vor knapp drei Jahren auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz versprochen wurden, ist wenig geblieben. Inzwischen wollen laut einer aktuellen Umfrage rund 30 Prozent der Ukrainer das Land zumindest vorübergehend verlassen, und 40 Prozent würden gern im Ausland arbeiten. Ob in Charkiw, Kiew oder Lwiw – vor allem in den großen Städten sitzen viele auf gepackten Koffern. Das betrifft nicht zuletzt auch Juden.
Chance »Die Zeit der Migration ist längst gekommen«, sagt der Kiewer Rabbiner Moshe Reuven Azman. Seit 2014 verlassen jedes Jahr Tausende Juden das Land und wandern nach Israel aus. Der 50-jährige Azman, der seit elf Jahren einer der drei Oberrabbiner der Ukraine ist, sieht mehrere Gründe für diese Entwicklung. »Die Enttäuschung ist der schlimmste Grund. Wenn von den Menschen, die für etwas Gutes gekämpft haben, heute Schmiergelder verlangt werden, dann fragen sie sich: Wofür haben wir denn eigentlich gekämpft?« Azman bedauert zwar, dass die ukrainischen Juden dem Land den Rücken kehren, beobachtet die Entwicklung aber gelassen: »Israel schafft die nötigen Bedingungen. Ich kann die Menschen nicht verurteilen, die gerade jetzt diese Chance nutzen.«
Die Anzahl der Juden, die seit dem Beginn der Ukraine-Krise Alija machten, hat sich in den vergangenen Jahren mehr als verdreifacht. Nach Angaben der Jewish Agency kamen zwischen 2011 und 2013 jährlich etwa 2000 ukrainische Juden nach Israel. 2015 waren es bereits 7000, und auch 2016 setzt sich die steigende Tendenz fort. So machten in den ersten Monaten dieses Jahres 22 Prozent mehr ukrainische Juden Alija als im Vorjahr.
Auch für den aus Donezk stammenden Michail heißt die große Hoffnung Alija. Seine Mutter stammt aus der Südukraine und ist nicht jüdisch. Aber Michails Vater ist Jude. Und weil der Nationalitäteneintrag in der sowjetischen Geburtsurkunde seines Großvaters darauf hinweist, hat der 41-Jährige nun beste Aussichten, nach Israel auszuwandern.
Antrag Seinen Antrag hat Michail bereits vor einigen Wochen abgegeben. Nun muss er warten. Obwohl das Verfahren für Antragsteller aus dem Osten des Landes deutlich vereinfacht wurde, kommen die israelischen Konsulate kaum mit der Bearbeitung hinterher. Im vergangenen Jahr verringerte sich die Zeit der Bearbeitung von drei auf anderthalb Monate. Jetzt müssen sich die Behörden sehr anstrengen, um innerhalb dieses Zeitfensters zu bleiben.
»Es ist vorbildlich, was Israel für Auswanderer aus der Ukraine tut«, sagt Michail. Weil die Ukraine wegen des Donbass-Kriegs zu den Ländern gehört, in denen der jüdischen Bevölkerung die größte Gefahr droht, wurde die monatliche Unterstützung erhöht. Michail kommt das entgegen. Vor dem Krieg war er Kleinunternehmer: In Donezk hatte er einige Autowerkstätten. Nachdem im Sommer 2014 die Kampfhandlungen in seinem Bezirk stark zugenommen hatten, floh er mit seiner Frau und seiner damals zehnjährigen Tochter nach Charkiw. Er verkaufte seine Firma und lebt bis heute von den Ersparnissen.
Binnenflüchtlinge Doch nun, zwei Jahre später, ist das Geld ausgegangen. In Charkiw, wo Michail keine langfristige Arbeit finden konnte und sein Geld deshalb als Taxifahrer verdient, sieht der 41-Jährige keine Chancen. »Ich wollte mich hier etablieren, aber der Markt ist voll. Es war fast unmöglich, sich in Charkiw als Unternehmer zu behaupten – und die Hilfe des Staates für Binnenflüchtlinge hält sich in Grenzen«, klagt Michail. »Man braucht Dutzende Bescheinigungen, um ein paar kleine Zuschüsse zu bekommen.«
Ein großes Problem war es auch, die nötigen Papiere für den Alija-Antrag zusammenzubekommen: Dokumente, die die Behörden auf dem Gebiet der selbst erklärten Volksrepublik Donezk ausgeben, werden weder in der Ukraine noch in Israel anerkannt.
»Ich musste viel Zeit bei Behörden verbringen«, sagt der Familienvater. »Aber zum Glück habe ich jetzt alles beisammen.« Für Michail, der seinen Familiennamen aus Vorsicht nicht nennen will, weil sein Bruder noch als Unternehmer im besetzten Gebiet der Ostukraine tätig ist, war die Auswanderung nach Israel schon immer ein Plan, den er im Hinterkopf trug. Nun sei der Notfall eingetreten, sagt er. »Ich war noch nie in Israel, aber mein Vater hat mir nur Gutes über das Land erzählt. Nun ist es Zeit, Israel selbst kennenzulernen.«
Anders als Michail, der die gesetzlichen Voraussetzungen für die Alija erfüllt, melden sich bei der Jewish Agency seit Monaten auch viele Ukrainer, die entweder keine jüdischen Vorfahren haben oder deren Existenz nicht beweisen können. »Das zeigt leider, dass viele in der Ukraine keine Hoffnung mehr haben«, sagt eine Mitarbeiterin der Jewish Agency.
anatevka Rabbi Azmans Ziel aber ist nicht die Auswanderung seiner Gemeindemitglieder. »Wir versuchen, für jüdische Binnenflüchtlinge die besten Bedingungen innerhalb der Ukraine zu schaffen«, sagt er. Im vergangenen Jahr ist im Bezirk Kiew sogar ein kleines privat finanziertes Städtchen für sie entstanden. Man hat es Anatevka genannt, nach dem fiktiven Schtetl, in dem das Musical von Tevje, dem Milchmann, spielt.
»Trotz Korruption und fehlender staatlicher Hilfe konnten wir auf diese Weise Hunderten von Juden helfen«, sagt Azman über das Flüchtlingslager. Um die Lage grundsätzlich zu ändern, reicht es allerdings nicht aus.