Wie kann es sein, dass die Zahl antisemitischer Vorfälle drastisch ansteigt – doch ihre Opfer bei Emanzipations- oder antirassistischen Bewegungen wenig Anklang finden?
Diese Frage führt zu einigen anderen Fragen: Wo befinden sich Juden im Spektrum derzeitiger Identitätspolitik? Erscheinen sie überhaupt in der Opfer- oder eher in einer Täterrolle? Sind sie privilegiert oder benachteiligt? Wie sehen sie das selbst, und wie sehen es andere? Und, um es auf den Punkt zu bringen, angelehnt an den aktuellen Diskurs: Sind Juden weiß?
Essay Letzteres ist der Titel einer Ausstellung, die seit dem Wochenende im Amsterdamer Jüdisch-Historischen Museum zu sehen ist und derzeit in den Niederlanden für viel Gesprächsstoff sorgt.
Zugrunde liegt ihr ein Essay unter dem gleichen Titel, der 2019 in der progressiven Wochenzeitung »Vrij Nederland«, einst ein Organ des Widerstands gegen die deutsche Besatzung, erschien. Untertitel: »Wie die Linke in ihrem Kampf gegen weiße Privilegien auch die Juden trifft«. Der jüdische Journalist Gideon Querido van Frank geht darin der Frage nach, warum progressive Aktivisten oft »ohrenbetäubend still« sind, wenn es um Antisemitismus geht.
Die Ausstellung sorgt für viel Gesprächsstoff im Land.
Van Franks Analyse beginnt mit der eigenen Standortbestimmung: Juden seien den längsten Teil der Geschichte ausgeschlossen, verfolgt und ermordet worden. »Daran ist verdammt wenig weiß.«
tradition Van Frank verweist auf die Tradition jüdischer Protagonisten in sozialen Kämpfen. »Ich habe mich selbst immer als links gesehen, gerade weil ich Jude bin.« Diese Beziehung sieht er jedoch zunehmend einseitig. Die jüdische Bevölkerung Europas sei »eine Minderheit wie nie zuvor«, Antisemitismus zugleich so stark verbreitet wie noch nie nach dem Holocaust. Fazit: »Dass die Linke sich nun weigert, sich für uns einzusetzen, fühlt sich wie ein Verrat an.«
An dieser Stelle kommt der Staat Israel ins Bild – und die in Teilen der antirassistischen Argumentation verbreitete Position, »nichts gegen Juden, nur etwas gegen Israel« zu haben.
Antikoloniale, antirassistische Bewegungen kennen langfristige Allianzen wie die zwischen dem African National Congress (ANC) und der PLO (wobei just die Anti- Apartheid-Bewegung auch viele wichtige jüdische Mitglieder hatte) oder den Black Muslims. Im Black-Lives-Matter-Umfeld ist »Palestine« seit Jahren ein wichtiger inhaltlicher Referenzpunkt, der Schwarze und Palästinenser als Opfer ähnlicher Unterdrückung begreift.
Juden werden oft nicht mehr als diskriminierte Minderheit gesehen.
Wie diese komplexe Materie in eine Ausstellung transportiert wird? Van Frank war als Gastkurator daran entscheidend beteiligt, gemeinsam mit der Aktivistin Lievnath Faber und der Schauspielerin Anousha Nzume, Autorin des bekannten Buchs Hallo witte mensen (Hallo, weiße Leute). »Den roten Faden meines Essays verfolgen wir mit Fotos, Karikaturen oder Gegenständen: etwa einer Kippa mit Black-Lives-Matter-Schriftzug oder einer mit einem Pro-Trump-Slogan. Der andere Teil ist ein Video, auf dem jüdische und nicht- jüdische, schwarze und weiße Menschen gefragt werden, ob Juden ›weiß‹ sind. Das sind bisweilen ganz schön konträre Positionen, was ich sehr wichtig finde.«
konstellation Am Ende des Films steht die Frage, wie es in dieser Konstellation weitergeht, und welchen Ausweg es gibt aus dem Irrgarten aus Missverständnissen und identitären Konzepten und Opferkonkurrenz. »Einander zuhören, die Geschichten und die Schmerzen der anderen anerkennen«, empfiehlt van Frank.
In Amsterdam wird die Diskussion in diesem Sommer mit mehreren Veranstaltungen fortgesetzt. Dabei debattieren Aktivisten mit verschiedensten Hintergründen über Intersektionalität und die Frage, warum Hass auf Juden von Emanzipationsbewegungen häufig nicht wahrgenommen wird.
Die nun eröffnete Ausstellung, die wegen der Corona-Pandemie um drei Monate verschoben wurde, ist in diesem Zusammenhang eine kleine, aktuelle Intervention an der Schnittstelle von Rassismus und Antisemitismus. »Oft ist es bitter zu sehen, wie deutlich das Thema Antisemitismus in der Solidarität unter verschiedenen verfolgten Gruppen fehlt«, sagt Museumsdirektor Emile Schrijver. »Mehr noch: Immer häufiger wird von der ›jüdisch-christlichen Kultur‹ gesprochen, sodass Juden als Teil der etablierten Ordnung erscheinen.«
Intersektionalität Auch Kuratorin Lievnath Faber, selbst eine soziale Aktivistin, die sich laut ihrer Website »radikal inklusiver jüdischer Gemeindearbeit« widmet, findet, dass Juden nicht mehr als diskriminierte Minderheit wahrgenommen werden.
Der Kurator verweist auf die Tradition jüdischer Protagonisten in sozialen Kämpfen.
Die »unbequeme Position von Juden in der intersektionalen Antirassismus-Bewegung« analysiert sie so: »Einerseits ist Antisemitismus ein blinder Fleck, der übersehen wird. Andererseits existieren in den Bewegungen antisemitische Denkbilder, und man realisiert nicht, dass sie antisemitisch sind.«
Als zentrales Problem sieht sie die Gleichsetzung von Juden mit Israel, welche die Debatte beschränke. Gerade die vergangenen Wochen, in denen diese Gleichsetzung mit selten gesehener Heftigkeit stattfand, haben dies auf dramatische Weise gezeigt.
Mehr Informationen: jck.nl