Richard Bernstein ist aufgekratzt an diesem Samstagmorgen, man merkt ihm an, dass er sich schon die ganze Woche auf diesen Tag gefreut hat. Mit überschwänglicher Herzlichkeit begrüßt er seine Freunde vom Achilles Running Club am Eingang zum Central Park und erzählt ihnen auch gleich, was ihn bewegt: »Meine Freundin und ich haben heute Date Night. Wir gehen aus und tun so, als wäre es das allererste Mal.«
Wegen der Date Night ist Bernstein extra für das Wochenende von Detroit, wo er als Richter am Obersten Gericht des Staates Michigan arbeitet, nach New York geflogen. Und natürlich auch wegen des Lauftreffs hier, der einzigartig ist in den USA.
»Achilles hat mein Leben verändert«, sagt Bernstein. Der Verein bringt behinderte und nichtbehinderte Sportler zusammen und ermöglicht es Bernstein, seine Leidenschaft zu pflegen: den Marathon. Zwei sehende Läuferinnen begleiten ihn an diesem Samstag auf der Zehn-Kilometer-Runde durch den Park. Unter der Woche, in Detroit, ist Bernstein aufs Laufband angewiesen.
Das Laufen ist befreiend für den 42-Jährigen, der seit seiner Geburt blind ist. Man merkt ihm bei jedem Schritt an, wie er es genießt, sich die frische Frühlingsluft um die Nase wehen zu lassen, Blütenduft zu riechen und den besonderen New Yorker Mix aus Vogelgezwitscher und Verkehrslärm zu hören. Aber mindestens ebenso befreiend ist es für ihn, einfach nur ein Läufer unter Gleichgesinnten zu sein.
Lebenslust »Ich mag eigentlich die Richterrolle gar nicht so sehr«, sagt er, während er mit seinen beiden Mitläuferinnen lostrabt. Dabei lächelt er breit und strahlt damit eine ansteckende Lebenslust aus. Es ist das unverfälschte Lächeln von einem, der gar nicht wissen kann, welche Wirkung es auf andere hat.
Als Richter, fährt Bernstein fort, erwarte man von ihm, dass er streng ist, akademisch und gediegen – alles Dinge, die ihm überhaupt nicht liegen. »Ich bin unter Richtern ein Paradiesvogel.« Das ist er nicht nur, weil er blind ist. Seine Offenheit, seine Wärme, seine überschäumende Lebenslust, all das passt so gar nicht zu dem, was man gemeinhin mit dem Richteramt in Verbindung bringt. Schon gar nicht mit dem eines Obersten Staatsrichters.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass Richard Bernstein Richter geworden ist. Im Staat Michigan werden Staatsrichter gewählt, und das Wahlvolk dort mochte ihn so, wie er ist. »In einem Staat, in dem Richter berufen werden, wäre ich nie zu diesem Amt gekommen«, sagt er.
Auftritt Inzwischen hat Bernstein seinen Lauf beendet und nimmt in einem Café in der Upper East Side von Manhattan Platz. »Ich hoffe, ich rieche nicht zu streng«, sagt er, während er einen Kaffee bestellt, noch immer im Joggingtrikot. Auch das ist nicht eben ein richterlicher Auftritt.
»Ich habe es wohl geschafft, eine Verbindung zu den Menschen herzustellen«, erklärt sich Bernstein seinen politischen Erfolg. Durch jeden Landkreis seines Bundesstaates ist er gereist, hat Hände geschüttelt, in Schnellrestaurants und Bars gesessen und sich Geschichten angehört, ist in Gewerkschaftsversammlungen gegangen und in Gottesdienste. Danach hatte er fast immer die Leute für sich gewonnen.
Das ist umso erstaunlicher, weil Michigan bei der Präsidentschaftswahl für Donald Trump gestimmt hat. In vielerlei Hinsicht ist Michigan ein typischer Trump-Wähler-Staat – wirtschaftlich getragen von der kämpfenden Automobilbranche und dem sterbenden Bergbau, abgehängt von Globalisierung und Automatisierung. Und doch hat man hier einen blinden, linksliberalen Juden zum Obersten Staatsrichter gewählt, einen, der Bernie Sanders deutlich ähnlicher ist als Trump.
Bernstein erklärt sich das so: »Ich glaube, die Menschen identifizieren sich mit meiner Geschichte.« Es ist die Geschichte des Underdogs, der nicht über sein Handicap klagt und sich offensiv den Herausforderungen des Lebens stellt. So wurde Bernstein, obwohl er aus einer wohlhabenden Anwaltsfamilie kommt, zu einem Helden der Vernachlässigten von Michigan. »Ich bin wohl in gewissem Sinn ein Populist«, sagt er. »Aber mit einer positiven Botschaft, nicht mit Hass.«
Bekannt wurde Bernstein, als er sich nach dem Studium als Anwalt in der Kanzlei seines Vaters für Behindertenrechte einsetzte. Dabei war ihm kein Gegner zu groß oder zu mächtig. Er verklagte die Stadt Detroit, weil ihre Busse nicht behindertengerecht ausgestattet waren. Er verklagte Delta Air Lines und den Detroiter Flughafen, weil die Linienflüge für Behinderte nicht zugänglich waren. Und er verklagte die Universität von Michigan, weil ihr Football-Stadion nicht genügend Behindertenplätze bot.
Bei all dem zimmerte Bernstein sich einen Ruf und verschaffte sich Respekt. Wer auch immer unter seinen Gegnern ihn nicht ernst nahm, wurde vor Gericht eines Besseren belehrt. Bernstein war gut vorbereitet, kämpferisch und voller Ressourcen. »Ich bin für viele meiner Gegner zum Albtraum geworden.« Bald sah niemand mehr in ihm den Blinden, sondern vor allem den hartnäckigen, gewieften Anwalt.
Omelett »Ich glaube, das ist für Behinderte die größte Hürde«, sagt Bernstein, »ernst genommen zu werden.« Dann entschuldigt er sich kurz für seine Tischmanieren und beginnt, tief über seinen Teller gebeugt, sein Omelett zu vertilgen. »Es ist schwer, wenn man nicht genau weiß, wie groß das Essen ist«, erklärt er. »Bei einem Business-Lunch nehme ich deshalb immer ein Sandwich.«
Den Quotenbehinderten, fährt er fort, toleriere jeder gern. »Niemand wird sich offen gegen Integration aussprechen.« Aber wenn es darum geht, einen blinden Partner oder gar einen blinden Boss zu akzeptieren, dann werden die Widerstände enorm. »Dann ist man plötzlich nicht mehr niedlich.«
Den Respekt der Gegner, Kollegen und Wähler hat Richard Bernstein sich schwer erkämpft. »Ich muss für alles doppelt so hart arbeiten wie andere.« Während eines Prozesses rasch in eine Akte schauen, ist für Bernstein keine Option, alle Fälle muss er sich komplett eingeprägt haben.
15 bis 16 Stunden am Tag ist Bernstein dafür im Büro. Sein Tag beginnt morgens um vier mit einer Stunde Joggen auf dem Heimtrainer, spätestens ab halb sechs sitzt er am Schreibtisch. 26 Fälle muss er als Staatsrichter jede Woche verhandeln, alle sind komplett bei ihm abgespeichert, bevor er mittwochs mit seinen Kollegen in Klausur geht.
Und wenn er dann so vorbereitet im Kreise der Kollegen sitzt, dann ist er ganz der Alte, wie damals, als er die Stadt Detroit jahrelang genervt hat: der Wadenbeißer, der Typ, der einfach nicht locker lässt.
»Unser Oberstes Gericht ist mehrheitlich republikanisch«, erklärt er. Republikanische Richter neigen zu raschen Verurteilungen, er hingegen kämpft um Vertagung, wenn er nur den geringsten Zweifel hat. »Es geht schließlich um das Schicksal von Menschen.«
So bleibt Bernstein auch im Richteramt eine Stimme für all jene, die sonst keine Stimme haben. Im Verhandlungssaal und weit darüber hinaus.
Aktenstudium Wenn Bernstein nicht gerade Akten studiert – und auswendig lernt –, Fälle verhandelt und ein Gerichtssystem von 500 Richtern verwaltet, kämpft er weltweit für die gesetzliche Gleichstellung von Behinderten. In Israel hat er bereits als Sonderbeauftragter dafür gesorgt, dass die Armee Behinderten gleiche Chancen einräumt. Und als UNO-Kommissionsmitglied reist er rund um die Welt, um gegen diskriminierende Rechtsprechungen anzukämpfen.
Erst kürzlich war er im Auftrag der Vereinten Nationen in Österreich, um sich dort mit Parlamentariern zu treffen. Das Land verbietet es Blinden, als Juristen vor Gericht zu dienen. Das Argument: Wer keine Gesichtsausdrücke sehen kann, der kann nicht über Schuld oder Unschuld urteilen.
Bernstein hält dagegen, dass Blindheit vor Gericht ein Vorteil und kein Nachteil ist. »Wer sehen kann, ist in seinem Urteil über einen Menschen von dessen Äußerem beeinflusst. Ich hingegen bin vollkommen frei von Vorurteilen.« Für Bernstein ist die Gerechtigkeit tatsächlich blind.
Bernstein entschuldigt sich, es ist spät geworden, er muss, bevor er sich im Hotel für sein Date frisch macht, noch bei einem Schabbes-Lunch vorbeischauen. »Die Leute dort werden mich wohl auch in meinen Joggingklamotten ertragen müssen.«
Bevor er sich auf der Madison Avenue ein Taxi ruft, lässt der Richter sich noch kurz zur Toilette führen, die wie in vielen New Yorker Etablissements in eine verwinkelte Ecke des Restaurants gequetscht ist. »Wirklich behindertengerecht ist das ja nicht«, sagt er. Normalerweise würde Bernstein darüber wenigstens mit dem Manager ein paar Worte reden. Doch der Wirt hat Glück. Bernstein ist viel zu aufgeregt vor seinem Rendezvous, als dass er vorher noch einen Streit anzetteln würde.