Würde man in Straßburg eine Straßenumfrage zum Thema Europa und EU-Parlamentswahlen machen, bekäme man vermutlich ähnliche Antworten wie in anderen europäischen Großstädten. Latent ist auch hier die Skepsis gegenüber einem Europa, das sich vor allem in Verordnungen (Rauchverbot, Glühbirnenverbot) zu manifestieren scheint, das sich in der Ukraine-Krise zu behaupten versucht und im Übrigen gesichtslos agiert.
Von Paris aus gesehen ist Straßburg Provinz. An Markttagen, wenn Gemüse- und Obstbauern sowie die Landmetzger aus dem Umland in die Stadt kommen, klingt Straßburg elsässisch. Ansonsten Französisch. Die seit dem Krieg systematisch betriebene Frankonisierung hat den Dialekt und das Deutsche zurückgedrängt.
Schon immer war Straßburg auch jüdisch. Von einem »besonderen Ort auf der jüdischen Landkarte« spricht die in Straßburg lebende Schriftstellerin Barbara Honigmann. »Im Unterschied zu den Juden in Österreich und Deutschland sind die elsässischen Juden nach dem Holocaust in ihre Heimat zurückgekehrt. Straßburg ist einer der wenigen Orte mit einer ununterbrochenen Präsenz seit 2000 Jahren.«
SEFARDEN Rund 20.000 Juden leben in Straßburg. Proportional gleicht der jüdische Bevölkerungsanteil dem von Berlin oder Wien Ende der 20er-Jahre. Viele Besucher sind von der Selbstverständlichkeit überrascht, mit der in der Öffentlichkeit Kippot getragen werden. »Bevor in den 60er-Jahren die Sefarden aus dem Maghreb hierherkamen, hat es das nie gegeben«, sagt Barbara Honigmann. »Die Sefarden haben dem französischen Judentum damals einen kräftigen Schub Vitalität und Selbstbewusstsein verabreicht.«
Dieses Selbstverständnis hat sich in der jüdischen Gemeinschaft bis heute erhalten – dem seit einigen Jahren in Frankreich neu aufgekommenen Antisemitismus zum Trotz. Jüdisches Leben hier erscheint bunt, vielfältig, unaufgeregt alltäglich, zwischen klassisch orthodox, modern orthodox und assimiliert – mit koscheren Supermärkten und Lokalen, der Grande Choul als zweitgrößter Synagoge Europas und stadtweit bis zu 20 kleineren Synagogen und Beträumen.
Thierry Roos, zweiter Vorsitzender der Communauté Israelite de Strasbourg, Gründer von Radio Judaica und Redaktionsleiter des Gemeindeblatts »Chabat Shalom«, verkörpert dieses Selbstverständnis. Der Mann ist Familienvater, Kieferchirurg und seit der Kommunalwahl im März Stadtrat. Wenn es sein muss, ist der gebürtige Straßburger Lokalpatriot und Europäer. Kurz vor der Wahl zum Europäischen Parlament muss es sein – vor allem, wenn es um die Bedeutung und den Rang von Straßburg geht.
MITTELPUNKT Vor 65 Jahren, als die Briten die Stadt als Sitz des Europarats vorschlugen, muss Straßburg so etwas wie der geografische Mittelpunkt des damaligen Europa gewesen sein. Heute reicht die EU bis an die Westgrenze der Ukraine. Und erst im November protestierten die EU-Abgeordneten per Abstimmung gegen die Pendelei zwischen Brüssel und Straßburg.
Thierry Roos kann dann sehr leidenschaftlich werden. Straßburg ist für ihn ein »starkes Symbol der Aussöhnung« – in den EU-Institutionen sei die europäische Idee manifestiert. »Die gewählten Politiker sollten sich die Prinzipien der Gründerväter der europäischen Einigung wachrufen«, sagt er. »Straßburg wurde ausgewählt, um Europa in Frieden und Brüderlichkeit zu vereinen und den Kontinent vor einem Rückfall in Krieg und Barbarei zu bewahren.«
Dieser Gründergeist gehe von Straßburg aus, diesen Gründergeist gelte es an die nächsten Generationen weiterzugeben. »Dieses Symbol der Freundschaft ist jeden Preis wert«, sagt Roos. Es mute kleingeistig an, wenn eine Generation von Abgeordneten nach 70 Jahren Frieden eine Kostenrechnung aufmache und darüber klage, wie unbequem es sei, einmal im Monat von Brüssel nach Straßburg zu reisen.
ABGEORDNETE Aber wie nah ist Europa in Straßburg tatsächlich? Wenn an fünf Tagen im Monat 754 Abgeordnete aus 28 Ländern hier logieren, ist die Stadt vor allem voll. Man bekommt kein Hotelzimmer, die guten Restaurants sind ausgebucht.
»Europa – das sind nicht die Gebäude entlang der Avenue de l’Europe und nicht die Politiker allein. Es sind die Menschen«, sagt Roos und verweist auf die Beschäftigten der EU-Institutionen (rund 40.000 Menschen in Brüssel und Straßburg), die mit ihren Familien die Stadt mitprägen, die Mitarbeiter von 41 Botschaften und Konsulaten. »Straßburg hat sich sehr verändert. Die traditionelle Doppelkultur im Elsass, die mal deutsch und mal französisch dominiert war, ist heute wahrhaftig europäisch.«
Nein, Europa habe Straßburg für Normalverdiener nicht unbezahlbar gemacht, sagt Thierry Roos. Zwar seien die Lebenshaltungskosten gestiegen, aber das sei nicht zu vergleichen mit Paris, London oder Kopenhagen. »Straßburg ist in allen Belangen human. Die Lebensqualität ist hoch – wer hierher zieht, will nicht mehr weg.«
EUROPARAT Bisweilen wird das gewöhnlich durch die Brüsseler Bürokratie repräsentierte und politisch schwer fassbare Europa in Straßburg sogar konkret erfahrbar. Als im vergangenen Oktober der Europarat jene umstrittene Anti-Beschneidungsresolution erließ, formierte sich auch Straßburgs jüdische Gemeinde. »Wir waren sehr zahlreich dabei, und unsere Rabbiner haben gegen die empörende Resolution Stellung bezogen«, sagt Thierry Roos.
Zur Europawahl am kommenden Sonntag wünscht er sich ein EU-Parlament, das sich seiner eigenen Bedeutung und Verantwortung jederzeit bewusst werde, sei es bei heiklen Themen wie der Beschneidungsdebatte, bei der aus Unkenntnis Juden und Muslime böse brüskiert wurden, oder bei der vermeintlich einfachen Standortfrage Brüssel oder Straßburg. Sorge bereitet ihm der prognostizierte Rechtsruck. »Der nach Europa zurückgekehrte Antisemitismus ist das ärgste Problem. Er hat nationale Ursachen. Dagegen müssen wir gemeinsam kämpfen – die Abgeordneten und alle Europäer, die ein geeintes Europa wollen.«