Wie wird sich das europäische Judentum in den kommenden fünf bis zehn Jahren entwickeln? Das wollte das Internationale Zentrum für Gemeindeentwicklung (ICCD) der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation JOINT von führenden Funktionären und Meinungsmachern wissen. Also beauftragte man ein Team von Demoskopen des Trinity College in Hartford, Connecticut. Die Wissenschaftler befragten zwischen Juni und August vergangenen Jahres 314 Gemeindevorsitzende, Rabbiner und andere jüdische Entscheidungsträger sowie Intellektuelle in 32 Ländern Europas.
Anfang des Monats wurde die Studie vorgestellt, es ist die dritte ihrer Art. Etliche Resultate waren durchaus zu erwarten, doch die Studie hält auch Überraschungen bereit. In den Schlagzeilen mehrerer Medien tauchte vor allem eines der Ergebnisse auf: 40 Prozent der Befragten sehen im Antisemitismus die größte Gefahr für das künftige jüdische Leben in Europa. In der ersten Studie 2008 hatten das nur zehn Prozent gemeint, in der zweiten im Jahr 2011 waren es 26 Prozent der Befragten.
Terror Seit der letzten ICCD-Befragung vor fünf Jahren hat sich das jüdische Leben in Europa deutlich verändert. Angefangen mit dem Anschlag vor der Ohr-Torah-Schule im März 2012 in Toulouse, bei dem ein Terrorist drei Kinder und einen Rabbiner ermordete, reißt die Reihe islamistischer Terroranschläge gegen jüdische Ziele nicht ab.
Angesichts dieser Entwicklung waren die Demoskopen gespannt auf die Einschätzung der Befragten zum Thema Sicherheit. Auf die Frage, wie sicher sie sich als Juden in ihrer Gemeinde heute fühlen, antworteten 22 Prozent »sehr sicher« und 63 Prozent »ziemlich sicher«. Nur neun Prozent der Befragten fühlen sich »ziemlich unsicher« und fünf Prozent »überhaupt nicht sicher«. Erstaunlicherweise ähneln diese Zahlen sehr stark denen der letzten Befragung von 2011. Das ICCD sieht die Ursache dafür in den erhöhten Sicherheitsvorkehrungen.
Entfremdung Ungeachtet der massiven Zunahme antisemitischer Gewalt hält die Mehrheit der Befragten jedoch nach wie vor »innere Probleme« für die wirklich größte Bedrohung der Zukunft jüdischen Lebens in Europa. So sehen 61 Prozent der Befragten »die am meisten ernst zu nehmende Gefahr« darin, dass sich immer mehr Juden von ihren Gemeinden entfremden.
Dass sich nichtorthodoxe Übertritte und die Frage, wer jüdisch ist, künftig zu einem größeren Problem entwickeln, glauben 47 Prozent. Rund 44 Prozent sehen die ernsteste Gefahr für das jüdische Leben in interreligiösen Ehen. Doch diese Zahl ist in den vergangenen sieben Jahren deutlich gesunken: Bei der ersten Befragung waren es noch 64 Prozent. Was vielen wirklich große Sorgen macht, ist der demografische Wandel: Die Geburtenrate sinkt, die Gemeinden schrumpfen und leiden zunehmend an Überalterung.
www.jdc-iccd.org/en/article/70/findings-of-the-third-survey-of-european-jewish-leaders