Herr Lev, wie geht es Ihnen?
Sehr gut. Dreimal auf Holz geklopft, bin ich gut sechs Wochen vor meinem 87. Geburtstag in bester Verfassung. Ich bin geimpft, hatte meinen zweiten Booster: Mir geht es also bestens.
Sie sind in Ihrem stolzen Alter ein Star auf TikTok und haben dort aktuell 260.000 Follower. Wie kam es dazu?
Ich habe zusammen mit meiner Partnerin Julie ein Buch geschrieben, und wir haben gemeinsam überlegt, wie wir dafür ein wenig die Werbetrommel rühren könnten. Also kam Julie auf die Idee, es einfach mal über TikTok auszuprobieren. Ich gebe ja gern zu, dass es viele Dinge auf dieser Plattform gibt, die dumm und lächerlich sind, aber es gibt eben auch Ernsthaftes und Wichtiges. Wie zum Beispiel, sich gegen Schoa-Leugnung oder gegen Antisemitismus einzusetzen. Es überrascht mich immer wieder, wie viele Menschen darauf reagieren und mit mir in Kontakt treten.
Sind das eher jüngere Menschen?
Ich würde sagen: Ja. Genau weiß ich das nicht, aber acht von zehn Leuten sind junge Menschen, und es sind auch eher Frauen als Männer.
Sie beschreiben sich in Ihrem Profil als »Schoa-Überlebender, Optimist, Schelm«. Was ist denn das Schelmische an Ihnen?
Oh, Sie wollen meine Geheimnisse kennenlernen? Aber ernsthaft: Ich halte mich ungern an Regeln. Ich teste Regeln aus und breche sie – das ist nicht immer weise, aber ich fordere sie heraus. Und befolge eher den Spruch: Regeln sind da, um gebrochen zu werden.
War es auch in gewisser Weise schelmisch, sich auf TikTok zu präsentieren?
Ja, das ist eine kleine Herausforderung. Es gibt nicht allzu viele über 80-jährige Schoa-Überlebende, die sich dort bewegen.
Ist das nicht auch ein unheimlicher Zeitfresser?
Das ist es, und meine Partnerin Julie ist da die treibende Kraft. Sie ist sehr kreativ und hat viel Erfahrung aus ihrer früheren Tätigkeit in Hollywood.
Sie haben eine große Familie, sechs Kinder und 15 Enkelkinder. Wie haben die auf Ihre Aktivitäten im sozialen Netzwerk reagiert?
Ganz unterschiedlich, denn meine Kinder sind im Alter zwischen 40 bis 57 Jahren, und da gibt es schon verschiedene Ansichten. Sie waren skeptisch. Auch skeptisch, was ihren Vater angeht.
Weshalb?
Meine Frau ist vor zehn Jahren verstorben. Wir waren 40 Jahre lang verheiratet, und für meine Kinder war sie die Frau, zu der sie aufschauten. Sie war eine sehr besondere Person. Nachdem sie gestorben war, wusste ich, dass ich nicht allein bleiben wollte. Kurz bevor sie starb, hatten wir darüber gesprochen. Ich weinte, als sie mir sagte, dass ich mir eine Partnerin suchen sollte. Ich hatte also ein paar Beziehungen, und das ist für Kinder, die ausschließlich ihre Mutter gewöhnt waren, eben schwierig. Sie waren daher skeptisch, sehr skeptisch. Vor viereinhalb Jahren lernte ich Julie kennen. Zwischen uns liegen 30 Jahre, und meine Kinder nahmen uns anfangs nicht allzu ernst, aber im Lauf der Zeit und mit mehr Erfahrung haben wir alle eine sehr innige und respektvolle Beziehung zueinander aufgebaut.
Die Skepsis, von der Sie gerade sprachen, hat sich also etwas gelegt?
Jetzt, da sie sehen, wie es sich entwickelt, sind sie viel mehr dabei. Aber natürlich gibt es bei sechs Kindern Unterschiede. Sie sind ja nicht alle gleich. Aber alle unterstützen mich eigentlich.
Vielleicht gehen wir ein wenig in der Zeit zurück. Sie wurden in Karlsbad geboren.
Ja, am 3. März 1935.
Welche Erinnerungen haben Sie?
Nicht viele. Ich gebe offen zu, dass ich mich an etliches nicht aktiv erinnern kann, denn ich war erst drei Jahre alt, als wir Karlsbad verließen. Trotzdem gibt es ein paar wenige Dinge, die mir noch präsent sind.
Welche sind das?
Ein Dreirad. 1938, als das Sudetenland an Hitler fiel, beschlossen meine Eltern und meine Großeltern, dass wir von dort wegmussten. Juden wurden ausgegrenzt, entmenschlicht. Sie dachten, in Prag wären wir sicher. Das war natürlich im Nachhinein gesehen etwas naiv, aber die Menschen versuchten alles, um herauszukommen. An einem Abend im Juni sollte also unser Zug gehen, und ich hatte dieses Dreirad. Es war rot mit schwarzen Griffen. Ich hatte es zu meinem dritten Geburtstag bekommen. Nun sollte ich es nicht mitnehmen dürfen. Wir hatten so viel Gepäck, und meine Eltern sagten: Nein! Mein Großvater wollte es noch nehmen, aber es war nicht möglich. Eine andere Erinnerung, die ich an Prag habe, ist dieser kleine Park, in dem eines Tages das Schild »Juden verboten« stand. Ich verstand nicht, warum ich nicht auf diese Schaukel durfte, die ich so liebte. Diese Erinnerung ist so stark, dass ich, als ich im vergangenen Jahr nach Prag fuhr, diesen Park aufsuchte – heute gibt es dort weder das Schild noch die Schaukel – und mich meine Gefühle regelrecht übermannten.
Sind Sie in einer eher säkularen oder religiösen Familie aufgewachsen?
In einem sehr säkularen Umfeld. Wir waren sehr angepasst. Auf der Seite meines Vaters gab es viele tschechische Juden. Mein Vater wurde in Most geboren. Hier ist übrigens ein Bild von ihm, das ich aus Yad Vashem habe. Denn ich erfuhr, dass er sich um ein Visum bemühte, und das ist das Bild, das er dafür benutzte. Aufseiten meiner Mutter gab es viele deutsche Juden. Ihr Vater hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und das Eiserne Kreuz bekommen. Er war sich sehr sicher, dass man ihm nichts antun würde.
Haben Sie zu Hause auch Deutsch gelernt?
(auf Deutsch) Ja, und ich habe es nicht vergessen.
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie Deutsch sprechen?
Jetzt geht es mir gut damit. Aber es hat fast 26 Jahre gedauert, bis ich für mich irgendwie eine Art und Weise gefunden hatte, Deutschen zu begegnen. Ich erzähle Ihnen kurz etwas. Das erste Mal, dass ich zustimmte, deutschen Boden zu betreten, war ein reiner Zufall. Meine Mutter lebte in Kanada, und von Zeit zu Zeit besuchte ich sie. Mein Reisebüro erzählte mir von einem sehr guten Angebot, mit Lufthansa über München zu fliegen, dort zu übernachten und dann direkt nach Toronto weiterzureisen. Also tat ich es, aber ich sprach kein Wort Deutsch, mit niemandem. Sie mussten alle Englisch mit mir reden. Aber danach hatte ich meinen Frieden geschlossen. Ich will ganz ehrlich sein, ich werde das auch oft auf TikTok gefragt: »Vergeben Sie den Deutschen?« Meine Antwort ist: »Nein.« Das gilt nicht für diejenigen, die heute leben, aber ich vergebe den Deutschen von damals nicht, die es zuließen, dass Hitler so viel Leid über die Menschen brachte. Nicht nur über Juden, auch über Deutsche. Ich habe heute viele wundervolle Freunde in München und Stuttgart.
Sind Sie seit diesem ersten Mal häufig nach Deutschland gereist?
Ja, vier- oder fünfmal. 1989 stiegen meine Familie und ich ins Auto, ein Subaru-Van, fuhren per Schiff nach Griechenland, durch das ehemalige Jugoslawien, mit einem Visum in die Tschechoslowakei, dann nach Österreich, Deutschland und wieder zurück. Einen Monat waren wir unterwegs. Erst kürzlich war ich für zehn Tage da. Eigentlich wollten wir in die USA, aber wegen der Pandemie saßen wir in Brüssel fest, wo ein Sohn von mir lebt. Also sagten meine Freunde: Nehmt doch einen Zug, fahrt nach München. Ich traf dort eines der anderen Kinder aus Theresienstadt.
Nur 92 Kinder hatten überlebt. Wie war diese Begegnung für Sie?
Sie war fantastisch, sehr emotional. Ich hatte ihn so lange nicht gesehen. Wir hatten lange keinen Kontakt. Wir sind zwei alte Männer …
… ohne Kindheit. In Theresienstadt konnte es keine Kindheit geben.
Vergessen Sie Kindheit. Ich hatte keine. Von dem Moment an, in dem ich mit drei Jahren in den Zug nach Prag steigen musste, war alles unbekannt. Es war ein konstanter Kampf, am Leben zu bleiben, etwas zu essen zu finden. Wir waren hungrig. Rund um die Uhr. Ich war vier Jahre dort. Es ist ja alles dokumentiert. Die Deutschen mögen – im Hebräischen sagen wir Seder –, sie mögen Ordnung. Juden mussten es aufschreiben. Die Russen haben uns befreit. Sie gaben uns Zigaretten und Süßigkeiten. Es war Balagan.
Und der Beginn eines anderen Lebens.
Ja, aber das brauchte Zeit. Es geschah nicht über Nacht.
Wie sind Sie eigentlich nach Kanada gekommen?
Ich hatte eine Urgroßtante in Brooklyn. Und nach dem Krieg kamen meine Mutter und ich auf eine Warteliste für ein Visum in die USA. Es dauerte, bis unsere Wartenummer an der Reihe war, aber irgendwann war es so weit. Also landeten wir in Brooklyn, in der 100 East 21st Street, ganz in der Nähe des Prospect Park. Ich konnte kein Englisch und ging, da das Schuljahr zu Ende war, in die Abendschule. Ein Jahr später entschied meine Mutter, nach Toronto zu gehen. Sie hatte einen Mann getroffen, den sie noch aus Karlsbad kannte. Und so verbrachte ich zehn Jahre dort.
Auf Ihrem TikTok-Profil erheben Sie regelmäßig Ihre Stimme gegen Corona-Leugner, die die Pandemie mit der Schoa vergleichen. Was sagen Sie diesen Leuten?
Ich sage Ihnen, dass ich es komplett absurd und lächerlich finde – ganz offen und ehrlich. Wir impfen, um am Leben zu bleiben. Um unsere Mitmenschen zu schützen, unsere Freunde. Wir tun das, um Leben zu retten. Die Vorstellung, das mit der Schoa zu vergleichen, deren Ziel es war, Menschen zu diskriminieren, auszugrenzen und sie zu töten, macht mich einfach sprachlos.
Sie sind letztendlich durch TikTok auch im Gespräch mit vielen jungen Menschen. Was ist Ihre Botschaft?
Also ganz allgemein gesprochen: Versucht trotz aller Schwierigkeiten, hoffnungsvoll und positiv zu bleiben. Tut euer Bestes – für euch, eure Familien und Freunde. Lebt das beste Leben, solange ihr könnt.
Mit dem Schoa-Überlebenden sprach Katrin Richter per Zoom.
Gidon Lev und Julie Gray: »The True Adventures of Gidon Lev: Rascal. Holocaust Survivor. Optimist«. Ramat Gan 2020, 324 S., 16,14 €