Als bei der Schießerei in einer Grundschule in Newtown, Connecticut, im Dezember 2012 ein Jugendlicher 20 Kinder und sechs Angestellte erschoss, war Rabbiner Menachem Creditor gerade mit einer 100-köpfigen Delegation von Geistlichen auf dem Weg nach Washington. Da stellte er plötzlich fest, wie wenig er wusste – und entschied zu handeln.
Newtown sei kein Einzelfall, sagt Creditor, Rabbiner der Gemeinde Netivot Shalom in Berkeley, Kalifornien, Autor, Blogger und politischer Aktivist. Mehrere Kollegen hätten von ähnlichen Vorfällen berichtet. »Jedes Jahr sterben in den USA etwa 33.000 Menschen durch Schusswaffen«, so der Rabbiner. »Das ist wie drei Newtowns am Tag.« Die von Creditor danach ins Leben gerufene Gruppe »Rabbis« startete mit 54 Mitgliedern; bei der Einführungskonferenz der Nachfolgebewegung »Rabbis Against Gun Violence« im Januar dieses Jahres versammelten sich bereits mehr als 800 Rabbiner aller Denominationen. »Heute haben wir 997 Mitstreiter«, berichtet Creditor stolz. Die meisten seien Rabbiner, der Rest jüdische Erzieher oder Pädagogen. »Die jüdische Religion beginnt mit der Heiligkeit des Lebens«, erklärt Rabbi Creditor. »Wir glauben, wer einen einzigen Menschen tötet, löscht das gesamte Universum aus.«
Widerstand In einer Gesellschaft, in der das Waffentragen ein Grundrecht wie die Meinungsfreiheit ist, haben es die »Rabbis« naturgemäß schwer. »Wir werden zwar auch persönlich angegriffen, aber der politische Widerstand ist schlimmer«, sagt Creditor. »Die Profitgier in der Politik wird mit Menschenleben bezahlt.«
Das größte Hindernis, so Rabbi Creditor, sei die in den USA weit verbreitete »Waffenverehrung«, die von Lobbygruppen wie der National Rifle Association (NRA) geschürt und konserviert werde. »Sie verteidigen radikal das Second Amendment, das in der amerikanischen Verfassung verankerte Recht, eine Waffe zu tragen und zu besitzen. Sie weigern sich, anzuerkennen, dass sich die Gesetze den wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Veränderungen anpassen müssen«, sagt Creditor.
In der Tat wurde das genannte Verfassungsgebot von Menschen im 18. Jahrhundert formuliert, als die Vereinigten Staaten kaum besiedelt waren und noch keine Armee hatten. Heute, im 21. Jahrhundert, ist die Landesverteidigung nicht mehr Sache einer Bürgerwehr, die darauf angewiesen ist, dass jeder eine Waffe im Haus hat. »In den dicht besiedelten Stadtgebieten von heute bedeutet jede Schusswaffe eine unmittelbare Gefahr für ein Menschenleben«, warnt Creditor.
Rabbiner Michael Bernstein aus Alpharetta, Georgia, schrieb in einem Kommentar in der Huffington Post kurz nach der Schießerei in Newtown, dass das Second Amendment zwar ein wichtiger Ausdruck des Rechts auf Selbstverteidigung sei, dass es aus jüdischer Sicht aber im Lichte des zweiten (biblischen) Gebots ausgelegt werden müsse, nämlich »in einer Weise, die den Stellenwert des menschlichen Lebens erhöht, nicht verleumdet«.
Bürgergruppen Die »Rabbis Against Gun Violence« kooperieren mit der Nichtregierungsorganisation »Do Not Stand Idly By« (etwa: »Steh nicht untätig daneben«), einem Zusammenschluss mehrerer Bürgergruppen, die ihren Ursprung in verschiedenen religiösen Gemeinden haben. Ihre Agenda: die Zahl der im Zusammenhang mit Schusswaffen stehenden Todesfälle, Verletzungen und Straftaten deutlich zu reduzieren; den Schusswaffenbesitz und -gebrauch für gesetzestreue Amerikaner zu erhalten sowie die Schusswaffenindustrie in den USA zu modernisieren und zu stabilisieren.
Zwei Drittel aller durch Schusswaffen verursachten Todesfälle seien Selbsttötungen, zitiert Creditor die Statistik. Eine hohe Zahl könnte durch Maßnahmen im Vorfeld stark reduziert werden. Zum einen durch eine intensivere Betreuung und Beratung suizidgefährdeter Personen, zum anderen durch strengere Meldepflichten psychisch Kranker, sprich, eine »schwarze Liste« für Selbstmordkandidaten. »Selbsttötungsversuche ohne Schusswaffen gehen normalerweise schief und werden von Fachleuten als Hilferufe interpretiert«, sagt Creditor. »Wenn jemand, der suizidgefährdet ist, keinen Zugang zu einer Waffe hat, können wir sein Leben retten.«
Smart-Gun-Technologie Creditor ist kein Pazifist. Er will den Zugang zu Waffen erschweren, nicht versperren. »Verantwortungsbewusste Schusswaffenbesitzer sind nicht das Problem«, betont der Rabbiner, der selbst Erfahrung mit Gewehr und Pistole hat.
Die Regierung habe die Pflicht, den verantwortungsvollen Umgang mit Waffen sicherzustellen, etwa durch die Verschärfung der bestehenden Gesetze und Strafen zum Kampf gegen illegalen Waffenhandel und die Einführung von Backgroundchecks auch für Waffenkäufe im Internet und auf Messen, sagt Creditor. Waffenhersteller sollen mehr in die Erforschung und Entwicklung der sogenannten Smart-Gun-Technologie investieren und ihre Waffen mit Erkennungsmechanismen oder sonstigen Schutzvorrichtungen versehen, die gewährleisten, dass nur der rechtmäßige Besitzer die Waffe benutzen kann. Waffenhändler sollen strenger überwacht und zu Backgroundchecks verpflichtet werden.
»Ein Prozent der circa 10.000 Waffenläden in den USA ist für den Vertrieb von zwei Dritteln der Schusswaffen verantwortlich, die an Verbrechensschauplätzen auftauchen«, sagte Rabbiner Joel Mosbacher von »Do Not Stand Idly By« der Times of Israel. Er plädiert außerdem dafür, die Straffreiheit von Waffenherstellern und -händlern abzuschaffen, mit deren Waffen Verbrechen begangen wurden.
Sichtbare Erfolge können die »Rabbis Against Gun Violence« noch nicht verbuchen, aber Creditor, unermüdlicher Anwalt für Menschen- und Minderheitenrechte, ist zuversichtlich. »Wir machen Fortschritte«, sagt der Rabbiner, den die Zeitschrift Newsweek 2013 zu den 50 einflussreichsten Rabbinern der USA zählte. »Durch unsere Aktionen und Gespräche werden die Verantwortlichen auf das Thema aufmerksam. Die Abgeordneten reagieren noch nicht richtig, aber wir bleiben im Dialog.« Obamas Präsidialverordnungen zum Thema Waffenkontrolle hält der Rabbiner für einen Schritt in die richtige Richtung, aber zufrieden ist er nicht: »Verordnungen sind gut, Gesetze sind besser.«