Dies sind die Realitäten des jüdischen Lebens während des russischen Kriegs in der Ukraine: Zum ersten Mal seit 2008 hat Limmud, das größte jüdische Bildungsfestival des Landes, nicht in Lemberg oder Odessa, sondern im Ausland stattgefunden, in Warschau. Etwa die Hälfte der fast 100 Teilnehmer waren Juden, die aus Kiew und vielen anderen ukrainischen Städten stammten. Andere, die kürzlich zu Flüchtlingen oder Einwanderern geworden waren, kamen aus ganz Europa und aus Israel nach Warschau.
»Heute ein bekanntes Gesicht zu sehen, ist viel wert, und ich weiß, dass es hier bekannte Gesichter geben wird«, sagte der Schriftsteller und Dramaturg Alexander Volodarsky, der seit vergangenem Frühjahr in Stuttgart lebt, kurz vor dem Treffen. »Limmud ist schließlich eine Familie. Es kommen zwar immer wieder andere Leute, aber sie werden schnell zu einer Familie.«
MOTTO »Für mich hat der Krieg 2014 begonnen«, sagte Limmud-Ukraine-Chefin Galina Rybnikova bei der Eröffnung zu den Teilnehmern. Damals sei sie zu einem Seminar nach Israel gereist und nicht nach Hause, nach Lugansk, zurückgekehrt. »Die meisten von euch befinden sich heute in einer so schrecklichen Situation«, fuhr sie fort und erinnerte an das Motto des Limmud-Treffens: »Wir sind alle zusammen«. Für viele war das Treffen eine wichtige Erinnerung an ein normales Leben, das viele heute schmerzlich vermissen, sowie eine Gelegenheit, Pläne für die Zukunft nach dem Krieg zu schmieden.
»Heute sind wir alle Ukrainer«, sagte Boris Bukhman, ein bekannter Fotograf aus Odessa, dessen Kriegsfotos unter anderem im »Guardian« veröffentlicht wurden. Und so begannen auch die beiden Sänger Vladi Blaiberg und Michael Riskin, die von Israel nach Warschau gereist waren, ihre Auftritte mit ukrainischen Songs.
»Wie soll das jüdische Leben im Krieg aussehen?« Diese Frage stellte Daria Yefimenko, Koordinatorin der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation JOINT, den Teilnehmern beim Round Table »Ukraine – War – People – Community«. Sollten sich jüdische Organisationen nur auf das physische Überleben der jüdischen Gemeinde konzentrieren?
Yefimenko erzählte, wie schwierig es gewesen sei, ihre Sponsoren einige Monate nach Kriegsbeginn davon zu überzeugen, Bildungsprogramme wiederzubeleben. Aber all das – Vorträge, Schabbat-Treffen, Diskussionen – hilft den Menschen, schwierige Zeiten zu überstehen.
KONTINUITÄT »Ich möchte, dass sich die Ukraine so schnell wie möglich erholt«, sagte der in Moskau geborene israelische Religionsphilosoph Pinchas Polonsky. Entscheidend für die Genesung sei die Kontinuität der Bildung – ein wichtiger Bestandteil der Bewahrung der zivilisatorischen Matrix. Und so trage das Limmud-Treffen angesichts des Krieges zur Bewahrung der Zivilisation bei.
Limmud half den Teilnehmern auch, die neue Realität zu reflektieren. So trug Volodarskys kreativer Abend den Titel »Auch Flüchtlinge scherzen«. Und in der Trainingseinheit am Samstag wurde den Teilnehmern beigebracht, »wie man das Leben jeden Tag genießt«, so der Titel.
Auch wenn das winterliche Warschau die ukrainischen Juden sehr herzlich willkommen hieß, hofft Reuven Stamov, der Oberrabbiner des konservativen Judentums in der Ukraine, dass dies die erste und letzte ukrainische Limmud-Konferenz im Ausland war.
Viele Teilnehmer des Treffens möchten gern im März zur Limmud-Konferenz nach Berlin reisen. Es wird eine gute Gelegenheit sein, alte Freunde und Bekannte wiederzusehen, denn seit Kriegsbeginn haben sich rund 5000 ukrainische Juden in Deutschland niedergelassen.