Nach nur einem Studienjahr in Wien hat Yevgen Sholudchenko nicht nur Freunde gefunden, sondern auch Brüder. Brüder im Geiste. »Sie sind wie Geschwister«, sagt er. »Ob gute oder schlechte Zeiten, sie halten immer zu dir.« Yevgen Sholudchenko wurde in der Ukraine geboren, wuchs in Deutschland auf und ging zum Studium nach Wien. Seine engsten Verbündeten fand er in der jüdischen Studentenverbindung Alpha Epsilon Pi, kurz AEPi.
»Wir haben dieselbe Weltsicht«, sagt der 21-Jährige mit dem blonden Kurzhaarschnitt. Auf Yevgens Kippa sind in gelbem Zwirn die griechischen Buchstaben AEPi gestickt. Auf seiner Krawatte leuchten klitzekleine AEPi-Logos auf blauem Grund. Sein aus Kolumbien stammender Mitstudent und »Bruder« Isaac Besalel spricht vom »selben Typ Mensch – Leute, die das Gleiche interessiert und die sich in derselben Situation befinden«.
Bruderschaft AEPi ist eine jüdische Studentenverbindung, eine »Bruderschaft«, wie Yevgen sagt. Sie wurde 1913 in New York gegründet und soll jüdische Studenten ansprechen. Ihre elf Gründer werden als »The Immortal 11« bezeichnet. Es ist die größte jüdische Verbindung weltweit mit etwa 12.000 aktiven Mitgliedern und rund 100.000 Alumni.
»Wir sind mehr als eine Burschenschaft«, heißt es auf der Website. Man versteht sich als »Verbindung, die den Unterdrückten Stärke gibt und ein Ventil für die Ehrgeizigen ist«. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, Star-Anwalt Alan Dershowitz und Komödiant Jerry Lewis zählen zu den Alumni.
AEPi ist eine jüdische Organisation, die nicht die Religion in den Mittelpunkt stellt, sondern die kulturelle und soziale Gemeinschaft. Sie ist in sechs Ländern weltweit aktiv: den USA, Kanada, Australien, Großbritannien, Israel und Österreich.
Eine aus den USA kommende jüdische Verbindung? Das klingt exotisch in einem Land, das »Burschen« üblicherweise als Mensuren schlagende Deutschnationale oder Bier trinkende Christlich-Konservative kennt. Dass es ein AEPi-Chapter in Wien gibt, ist selbst in der offiziell 7000 Mitglieder zählenden Wiener jüdischen Gemeinde wenig bekannt.
Von Mitgliederzahlen wie in den USA können Yevgen und seine Freunde allerdings nur träumen. Zehn junge Männer zählt die Wiener Kolonie (so bezeichnet man ein kleines Chapter). Es gibt nicht viele, auf die in Österreich die Beschreibung »männlich, jüdisch und Student« zutrifft, da ist die Gruppe der Beitrittswilligen für AEPi oder »Pledges«, wie sie genannt werden, ziemlich klein.
»Das ist also ein bisschen schwierig in dieser Umgebung«, sagt Dima Solovei, ein anderes AEPi-Mitglied. Sportlich, hochgewachsen, trägt er ein blaues Plastikarmband von AEPi und ist mit 17 der Jüngste in der Runde.
Rekrutierung hat daher Priorität. Vor allem zu Semesterbeginn. Vor einem Jahr, als Yevgen, Isaac und Dima mit ihrem Studium in Wien begannen, wurden sie selbst angeworben. Dann folgte die ein- bis zweimonatige Phase des gegenseitigen Kennenlernens. Die Aufnahmekriterien, erzählt Yevgen, seien »nicht so hart«. Gesellschaftliches Engagement ist gern gesehen. »Wenn jemand nichts tut, ist er keine Person für uns.«
Karriere Die meisten Mitglieder der Kolonie studieren an der Lauder Business School, einer privaten Universität im gediegenen Wiener Außenbezirk Döbling, der bekannt ist für seine Buschenschänken. Hier entstand vor knapp drei Jahren die erste deutschsprachige AEPi-Gruppe. Vielleicht kein Zufall: Das Studienprogramm der Business School ist englischsprachig und orientiert sich am amerikanischen System, die Mehrzahl der Studenten ist jüdisch, viele leben direkt am Campus. Sie sind karrierebewusst, Netzwerken ist erwünscht.
Ein Student aus dem zweiten Jahr lud die Neu-Studenten zu AEPi ein. Für Dima war der Gedanke der »Fraternity« zunächst nur »etwas aus den USA«. Dann entschied er, es auszuprobieren. »Für mich standen zunächst die Freundschaften im Vordergrund«, sagt der aufgeweckte Junge. »Erst später habe ich verstanden, dass die Business Connections eine wichtige Rolle spielen.« Ein paar »große Fische« seien AEPi-Mitglieder.
Für Yevgen, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, bietet die Bruderschaft die Möglichkeit, sich auszuprobieren, für das Berufsleben zu üben. Der aus Kiew stammende Dima, der sich für Hedgefonds interessiert, macht für die Gruppe die Buchführung.
Und Isaac? Der kümmert sich um die Anwerbung neuer Mitglieder. Theoretisch sind auch Nichtjuden zugelassen, wenn sie die Werte der Bruderschaft teilen. Und Frauen? Keine Chance. Für sie gibt es die weibliche Entsprechung der Burschenschaft: Sororities. »Dass Frauen bei uns mitmachen, ist mir noch nie in den Sinn gekommen«, sagt Dima. »Das ist doch das Konzept einer jeder Bruderschaft.«
Partys Auch das Sozialleben der Studenten prägt die Fraternity. Das Studienjahr begann mit einer »Party with Jews« in einer Wiener Bar. Dazwischen lag die Aufnahme der Neumitglieder, die sie als kleine persönliche Zeremonie beschreiben, über die sie aber nichts erzählen dürfen. Im November veranstalteten sie ein besonderes »Charity Event«: Bei einem öffentlichen Bartschneiden sammelten sie Geld für die Movember Foundation, eine Stiftung zur Unterstützung von Männergesundheit.
Viele Schabbat-Dinner unter der AEPi-Flagge sowie der hochrangige Besuch des Präsidenten der Bruderschaft, Andy Borans folgten . »Die Verbindung unterstützt uns sehr«, sagt Yevgen. Und natürlich feierten sie die Geburtstage der Brüder ausgelassen und ausführlich. »Schließlich sind wir Jugendliche!«Mutproben sind jedoch tabu, ebenso wie das Fechten. Dafür kann es schon mal passieren, dass die Brüder in der kleinen Synagoge der Lauder Business School gemeinsam Gebetsriemen anlegen. So wie vor ein paar Wochen.
An einem Schabbat im Juni bricht ein Bonbonregen auf Yevgen, Dima und drei weitere AEPi-Brüder ein. »Masel Tov«, rufen die Gäste von allen Seiten und klatschen. Immer wieder erschallt der Ruf, sowohl aus den hinteren Reihen, wo die Kommilitonen der fünf jungen Männer Platz genommen haben, als auch aus der Frauenabteilung, wo ältere Damen durch die Paravents lugen, um einen Blick auf die Enkelsöhne zu ergattern, die ihre Barmizwa nachholen.
»Fünf auf einen Streich«, sagt Rabbi Boruch Sabbach nach der Zeremonie. Für ihn symbolisiert die Barmizwa der Studenten das Festhalten an der »jüdischen Kontinuität«. Der Chabad-Rabbiner ist an der Syna-goge der Business School tätig und wegen seiner lockeren Art bei den Studenten sehr beliebt.
Tags darauf legen die fünf vor den Augen ihrer Familien die Gebetsriemen an. Für ein paar ist die eigene Barmizwa die erste, an der sie überhaupt teilnehmen. Dank Rabbi Boruchs siebenwöchigem Crashkurs hat es geklappt. »Diese Jungs hatten keine Ahnung vom Judentum«, sagt er lachend.
Puzzle Das Band der Bruderschaft scheint sich durch das religiöse Ritual zu verstärken. Dima sagt später: »Es ging so schnell, du liest deinen Teil und wirst von Bonbons ge-troffen. Ich werde die Bedeutung erst später spüren.« Für Yevgen war sein Jüdischsein bisher eher kulturell bestimmt. Doch er ist nun bereit für mehr. »Religion ist wie ein großes Puzzle. Das ist ein Anfang«, sagt er.
Als sich nach der Zeremonie die Jungen und ihre Familien bei einem Lunch stärken, erhebt sich Isaac. Stolz blickt er auf seine Mitbrüder und bedankt sich bei ihnen für die Freundschaft. »Eure Taten sollen euch Erfolg bescheren, und ihr sollt jede Chance ergreifen, die das Leben euch bietet. Ihr werdet alle gewinnen.«
Applaus und Begeisterungsrufe. Vielleicht ist er das, der Spirit von AEPi: der Glaube an sich selbst und die anderen. Nach der Sommerpause, zu Beginn des neuen Semesters, werden sie ihn weitertragen.