Stop! Das war zu früh.» Tom Fürstenberg hebt die Hand. Das Mädchen, das soeben den dunkelroten Toravorhang zugezogen hat, hält inne. «Noch mal, und langsamer», sagt der Chasan geduldig. Das Mädchen wiederholt die Bewegung. Jetzt fällt ihr Ende genau mit dem letzten Wort des Gesangs zusammen. Ganz so, wie Fürstenberg es zuvor erklärte. Während sich die Helfer vor dem Aron Hakodesch die Hände reichen, schaut er sich zufrieden um. «So, wir haben es geschafft.»
Es ist eine besondere Schabbatfeier: Rund 25 Menschen sind an diesem Morgen in der Synagoge von Deventer im Osten der Niederlande zusammengekommen, um sich in allen Einzelheiten der «Choreografie des Toradienstes» zu widmen. Chasan Fürstenberg erklärt haarklein den Ablauf, wird aber auch unterbrochen, wenn jemand ein Detail besser weiß. Ganz wie es dem Selbstverständnis der Gemeinde Beth Shoshanna entspricht: zusammen lernen, und das möglichst egalitär. «Wir haben keinen Rabbiner und keinen Vorstand», erklärt Fürstenberg später beim Kiddusch.
diskussionszirkel Die jüngste jüdische Gemeinde des Landes besteht seit knapp drei Jahren. Sie entstand aus den unregelmäßigen Treffen eines jüdischen Lern- und Diskussionszirkels in der Region. Dass daraus Beth Shoshanna wurde, war anfangs nicht geplant.
Entsprechende Überlegungen beschleunigten sich, als die frühere Synagoge von Deventer frei wurde. Seit 1951 hatte das schmucke Gotteshaus mit seinem freundlich-beigen Interieur einer protestantischen Gemeinde als Kirche gedient. «Als die das Gebäude nicht mehr benötigte, dachten wir: Lasst sie uns mieten, bevor ein McDonald’s dort einzieht», sagt Fürstenberg und lacht.
Da Beth Shoshanna keine offizielle Mitgliedschaft kennt, leisten die Teilnehmer jedes Gottesdienstes einen Beitrag von dem die Mietkosten der Synagoge bezahlt werden. Auch sonst weiß man sich zu helfen: Der Aron Hakodesch ist selbst gezimmert, die Sefer Tora eine Leihgabe der liberalen Zürcher Gemeinde Or Chadasch. Für eine eigene fehlt Beth Shoshanna schlicht das Geld. Neben dem Anspruch der Gleichheit zeichnet sich die Gemeinde durch Improvisationstalent aus.
Charakteristisch sind außerdem ein herzlicher Enthusiasmus und der auffallend freundliche Umgang miteinander. Die Begeisterung für hebräische Lieder ist im Schabbatgottesdienst ebenso groß wie beim Kiddusch. Bei der gut zweistündigen Feier wird viel gelacht. Als der frühere Israel-Korrespondent des NRC Handelsblad, Salomon Bouman, nach einiger Zeit dazustößt, wird er mit fester Umarmung und fröhlichem «Gut Schabbes» begrüßt.
Als Rebell oder neue Bewegung versteht Beth Shoshanna sich nicht. Die egalitären Grundsätze stehen neben einem Bekenntnis zur jüdischen Tradition und dem Gebrauch des orthodoxen Siddur. Um die eigene Unabhängigkeit zu bewahren, gehört man nicht zum liberalen Nederlands Verbond voor Progressief Jodendom.
Jan Cirpka sieht die Gemeinde eher als «Bereicherung des jüdischen Lebens» denn als Konkurrenz. Der 50-Jährige hat soeben seinen zweiten Auftritt als Gabbai absolviert. Dass jeder sich nach seinen Talenten ins Gemeindeleben einbringen soll, ist ein weiterer Grundsatz. «Tora-Leinen liegt mir nicht, und Hebräisch kann ich auch nicht», sagt der IT-Spezialist offen. «Die anderen sagen, ich habe die richtige Stimme für einen Gabbai.»
vaterjuden Wer Beth Shoshanna nun liberale Beliebigkeit vorwirft, übersieht einen wichtigen Punkt: Die meisten Gemeindemitglieder haben keine ungebrochenen jüdischen Biografien. Und das geht durchaus über den hohen Anteil an «Vaterjuden» hinaus: Jan Cirpka zum Beispiel ist halachisch gesehen Jude. Der Sohn einer Jüdin und eines nichtjüdischen Deutschen wuchs jedoch nicht jüdisch auf.
Cirpkas Annäherung an die eigenen Wurzeln begann spät. Eine leicht zugängliche Gemeinde, in der sein Lebensweg kein Einzelfall ist, hilft dabei enorm: «Hier guckt niemand komisch, wenn du etwas nicht weißt. Insofern ist es eine geschützte Umgebung, in der man in großer Gemeinsamkeit sein Jüdischsein erforschen kann.»
Die Kombination aus liberalem Anspruch und Respekt vor der Tradition zeigt sich auch bei den Speisen, die die Mitglieder vorbereitet haben: «Sie sind durch die Bank weg vegetarisch, damit auch wirklich jeder alles essen kann», erläutert Schriftstellerin und Gemeindemitglied Sanne Terlouw, «der Kaschrut entspricht man damit sowieso.»