In dieser Woche, wenige Tage nach der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer, blickt ganz Europa auf die Region, in der auch Malta liegt, der kleinste Staat in der EU. Chaim Segal, der einzige Rabbiner im Land, sagt, er bete immer für Frieden weltweit. Diesmal schließt er auch die vielen Opfer und ihre Angehörigen mit ein.
Jeden Dienstagabend lädt Segal zum Schiur. Kurz nach sieben Uhr startet er wie jede Woche auf seinem Laptop einen Film des Lubawitscher Rebben. Einziger Zuhörer ist diesmal Reuben Ohayon, der Enkel des letzten Rabbiners von Malta. Reuben organisiert das Gemeindeleben: Gottesdienste an Schabbat und Feiertagen, Religionsunterricht für Kinder.
In Malta mit seinen rund 450.000 Einwohnern leben etwa 150 Juden, verstreut auf die drei Inseln Malta, Gozo und Comino. Warum keiner zur Dienstags-Schul gekommen ist, weiß Reuben nicht. Manchmal hörten zehn und mehr Besucher dem Rabbiner zu, ein andermal sei er der Einzige.
Rund 40 Kilometer sind es von einem zum anderen Ende der eiförmigen Hauptinsel Malta. Die Steilküste im Südwesten ist kaum bewohnbar, umso dichter ist der Rest des Landes besiedelt. Die schmalen Straßen können die vielen Autos kaum mehr aufnehmen. Die Malteser stecken im Dauerstau.
Chaim Segal hat es trotzdem pünktlich zum Schiur geschafft. 2012 kam der Chabad-Rabbiner mit seiner Familie aus Israel, die Gemeinde hatte ihn gerufen. Er übernahm das Amt von Reubens Großvater. »Die Menschen hier«, lobt Segal, »sind zu Fremden sehr freundlich.« Mit seinem Bart, dem schwarzen Mantel und der Kippa ist der schmale Mann leicht als Rabbiner zu erkennen. Probleme hatte er deshalb nie, weder auf der Straße noch anderswo.
Betstube Die letzte Synagoge des Landes wurde 1995 abgerissen – zu wenige Juden lebten auf den Inseln. Seit 15 Jahren dient ein Raum in einer zum Gemeindezentrum umfunktionierten Etagenwohnung als Betstube: An der Stirnwand befindet sich der Aron Hakodesch mit den Torarollen, davor stehen das Pult für den Vorbeter und die Stühle für die Gemeinde.
Bis 1964 herrschten die Briten über Malta. Während des Zweiten Weltkriegs bombardierten Deutsche und Italiener monatelang die strategisch wichtige Insel. Reubens Familie lebte in der Hauptstadt Valletta. Sie war wegen des Hafens Hauptziel der Bomber. »Meine Familie hat drei Jahre im Luftschutzbunker geschlafen«, erzählt er. »Der Platz war knapp, Frauen und Kinder blieben im Bunker, der Großvater bewachte die Schul.«
Reuben, Jahrgang 1961, kennt viele Geschichten von seinem Vater und Großvater. Er erzählt, dass es den Juden damals nicht schlechter gegangen sei als anderen Maltesern: »Alle hungerten – aber sie hielten zusammen, Juden und Nichtjuden.«
Antike Schon in der Antike lebten Juden auf der Insel, vielleicht sogar schon, bevor die Römer kamen. Reuben Ohayon zitiert Historiker und linguistische Feinheiten. Der Name Malta stamme möglicherweise vom hebräischen »Lehi Malet«, eine Art Schutzgebäude oder Unterstand. In den Psalmen finde sich zum Beispiel der Begriff Maletta. Und in mehr als 2000 Jahre alten unterirdischen Gräbern nahe der ehemaligen Hauptstadt Rabat hätten Archäologen Menorot gefunden, erzählt Ohayon.
Im 15. Jahrhundert gehörte Malta zum spanischen Königreich. 1493 mussten Juden, die sich nicht taufen ließen, das Land verlassen. Die meisten flohen nach Nordafrika, in die Türkei und auf den Balkan. 40 Jahre später übernahmen die Johanniter die Herrschaft über die Inselgruppe. Juden, die noch auf Malta lebten oder dorthin verschleppt worden waren, galten als Sklaven. Sie mussten Hüte mit einem gelben Fleck tragen. Anfang des 19. Jahrhunderts fiel Malta nach zwei Jahren napoleonischer Besatzung an die britische Krone, die das Land bis zur Unabhängigkeit 1964 regierte.
Reuben Ohayons Vorfahren kamen Anfang des 20. Jahrhunderts aus Marokko, weil der damalige Rabbiner einen Nachfolger suchte. Heute sind die Ohayons die größte jüdische Familie des Landes. Die meisten Gemeindemitglieder haben inzwischen das Rentenalter erreicht. Doch in den vergangenen Jahren sind junge Leute zugezogen: jüdische Studenten aus anderen europäischen Ländern und zehn Paare aus Israel. »Sie arbeiten in den vielen neuen Computerfirmen«, sagt Ohayon. Andere betreiben in der Hauptstadt Valletta ein Kosmetikgeschäft mit Produkten vom Toten Meer. Auch Rabbi Chaim Segal hat seine Familie auf die Insel geholt. Seine Frau hat kürzlich in einem Touristenort ein koscheres Restaurant eröffnet.