San Martín de los Andes ist eine Kleinstadt am Fuße der Anden, malerisch gelegen am Lácar-See, umrahmt von eindrucksvollen Bergen. Gegründet wurde die Stadt im argentinischen Teil Patagoniens nahe der Grenze zu Chile Ende des 19. Jahrhunderts als militärischer Außenposten, um den Anspruch Argentiniens auf das Gebiet zu sichern. Heute ist der Ort vor allem bei Touristen beliebt.
»San Martín ist ein Reiseziel – sowohl im Sommer als auch im Winter. Der Nationalpark Lanín ist in der Nähe und hat mit dem Cerro Chapelco auch einen sehr bekannten Berg, zudem gibt es etliche Seen. Das sorgt dafür, dass immer viele Touristen hierherkommen«, sagt Diego Rabin. Der Industriedesigner lebt in der knapp 1500 Kilometer entfernten Hauptstadt Buenos Aires, verbringt aber einen guten Teil des Jahres in San Martín.
URLAUBSORT Im vergangenen Jahr hat die 30.000-Einwohner-Stadt in jüdischen Kreisen des Landes eine gewisse Prominenz erlangt, denn zum ersten Mal seit 40 Jahren wurde wieder eine Synagoge außerhalb von Buenos Aires eingeweiht – und das ausgerechnet in San Martín. Bis dahin war die einzige jüdische Einrichtung in ganz Patagonien ein Chabad-Haus in Bariloche, einem anderen Urlaubsort drei Autostunden südlich von San Martín.
Die neue Synagoge ist die zweite jüdische Einrichtung in dem rund 765.000 Quadratkilometer großen argentinischen Teil Patagoniens (eine Fläche mehr als doppelt so groß wie Deutschland) und seit vielen Jahren die erste neue Synagoge in ganz Argentinien, die nicht der chassidischen Chabad-Bewegung angehört, betont Rabin, der an der Gründung direkt beteiligt war.
»Eduardo Labatón, der aktuelle Vorsitzende der Gemeinde in San Martín, hatte seit Jahren die Idee, eine Synagoge in der Stadt zu eröffnen. Er stammt aus Buenos Aires und ist vor rund 25 Jahren nach Patagonien gezogen«, erzählt Rabin im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Vor drei Jahren kaufte Labatón, der in der Immobilienbranche und im Einzelhandel arbeitet, ein Grundstück in der Nähe des Sees und stellte einen Teil davon der Gemeinde zur Verfügung.
»Eine Gruppe von rund zehn Personen hat sich in meinem Haus versammelt, um eine Gemeinde zu gründen«, sagt Rabin. »Wir sind eine sehr eingeschworene Gemeinschaft, wir verstehen uns sehr gut.«
Eines Tages will die Gemeinde auch einen eigenen Rabbiner haben.
Und plötzlich sprach die Gruppe über den Bau einer vollwertigen Synagoge. »Jeder hat seinen kleinen Teil beigetragen, sodass es uns gelungen ist, die Synagoge zu eröffnen«, sagt Rabin. Unterstützung kam vom Lateinamerikanischen Rabbinerseminar in Buenos Aires sowie von mehreren Synagogen in der Umgebung der Hauptstadt. »Die jüdische Gemeinde Weitzman aus Buenos Aires spendete die Tora, eine Leihgabe auf Lebenszeit. So konnten wir die Synagoge eröffnen.« Rabin selbst entwarf das Logo der Synagoge und kümmert sich um die sozialen Netzwerke und die Webseite der Gemeinde.
FAMILIEN Die Gemeinde in San Martín ist sehr schnell gewachsen, erzählt er. Argentinien hat mit geschätzt 180.000 Mitgliedern die größte jüdische Bevölkerung Lateinamerikas. Die meisten dieser Juden leben im Großraum Buenos Aires. Wie viele in Patagonien leben, darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen.
Die neu gegründete Gemeinde von San Martín besteht aus rund 70 Familien. »Einige sind konfessionell ›gemischte‹ Ehen, andere leben so wie ich in Buenos Aires, verbringen aber im Sommer und Winter viel Zeit in San Martín.«
Eröffnet wurde die Synagoge im vergangenen Frühjahr zu Pessach. In dem kleinen Bethaus im Zentrum der Stadt, nur wenige Gehminuten vom Busbahnhof und dem Lácar-See entfernt, fand zunächst der Abendgottesdienst statt; danach gab es den Seder. »Es war sehr schön«, erinnert sich Diego Rabin, »denn es kamen der Rabbiner der Gemeinde Lamroth Hakol aus Buenos Aires und viele Mitglieder der dortigen Gemeinde. Darüber hinaus gab es einen großen Festakt, zu dem wir lokale Politiker und Vertreter anderer Religionsgemeinschaften eingeladen hatten. Die Reaktionen waren allesamt positiv.«
aktivitäten Inzwischen gebe es auch etliche kulturelle Aktivitäten in dem neuen Gemeindehaus, erzählt Rabin, »wir verstehen die Synagoge auch als kulturellen Raum. Wir haben eine Wand des Schoa-Museums in Buenos Aires ausgestellt, und wir denken darüber nach, eine Patagonien-Ausstellung zusammenzustellen«. Darüber hinaus veranstalte man Treffen mit Jugendlichen aus San Martín oder Bariloche, um ihnen die jüdische Identität zu vermitteln.
Zu einem richtigen Gemeindeleben gehören aber auch Familienfeiern, sagt Rabin und freut sich, dass es in den nächsten Monaten in der Synagoge die ersten Hochzeiten und Barmizwa-Feiern geben wird – »Ereignisse, die vorher undenkbar waren«.
Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden von Buenos Aires kommen als Touristen nach San Martín.
Einen eigenen Rabbiner haben die Juden in Patagonien noch nicht. Sie arbeiten mit der Gemeinde Lamroth Hakol in Buenos Aires zusammen. Die schickt an einem Schabbat pro Monat und an den Feiertagen einen Rabbiner. Zur Eröffnung vergangenes Jahr kam Argentiniens Oberrabbiner Fabian Skornik. Doch hofft man, eines Tages einen eigenen Rabbiner einstellen zu können.
KIDDUSCH »Wir hatten das Glück, dass Mario Jakszyn, eines unserer Gemeindemitglieder, jeden Freitag ehrenamtlich den Schabbatgottesdienst leitet, gemeinsam mit Tamar Schnaider, die zum Lenkungsausschuss der Gemeinde gehört. Sie machen dann auch Essen für den Kiddusch«, erzählt Rabin. Oft gebe es Schakschuka und Falafel. Und manchmal kämen dann bis zu 100 Leute zusammen.
Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden von Buenos Aires kommen als Touristen nach San Martín. Patagonien war schon immer eine beliebte Reiseregion, besonders für Naturliebhaber. Nun aber wollen laut Rabin die jüdischen Touristen zudem die Synagoge besuchen und den Schabbat dort verbringen.
Aber Rabin denkt schon weiter. Denn San Martín sei auch in sportlicher Hinsicht interessant. Es gibt beispielsweise viele Radrennen oder Skiwettbewerbe. Mit Unterstützung des jüdischen Sportverbandes FACCMA (Federación Argentina de Centros Comunitarios Macabeos), der die Gemeinde bereits jetzt unterstütze, wolle man eines Tages gern Sportevents mit mehr als 500 jüdischen Sportlern ausrichten, sagt er.
Noch ist das Zukunftsmusik, aber die Idee ist, so hat es Gemeindepräsident Labatón gegenüber der Zeitschrift »Forbes« formuliert, »einen offenen Raum zu schaffen, in dem sich jeder willkommen und wohlfühlen kann, der kommen möchte, um zu beten, zu singen und einen Moment mit der Gemeinschaft zu teilen«. Viele Beobachter sehen die neu gegründete Gemeinde auf einem guten Weg dahin.