»Es selbst zu sehen, ist etwas anderes, als es zu lesen«, sagt Maksym Rabinovych. Er ist Geschäftsführer des Babyn-Jar-Holocaust-Memorial-Zentrums in Kiew. Er ist einer der Hauptverantwortlichen für den Besuch einer interreligiösen Delegation kürzlich in der ukrainischen Hauptstadt.
Mehr als ein Dutzend Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften aus Europa und den USA waren mit dem Bus aus Warschau angereist. Die jüdische Gemeinschaft vertrat Rabbiner Dawid Szychowski aus Lodz.
Die Geistlichen wollten mit der Reise ihre Solidarität zeigen, für Frieden beten – und Orte wie Butscha, Irpin oder Hostomel besuchen, wo die russische Armee über Wochen willkürlich geplündert, vergewaltigt und gemordet hat. Mehr als 1000 Zivilisten sind dort getötet und zum Teil in Massengräbern verscharrt worden. Schockiert seien die Besucher gewesen, sagt Rabinovych.
Menschlichkeit »Ich appelliere an die spirituellen Führer der Welt, Stellung zu beziehen, ihre moralische Aufgabe zu übernehmen und mit Stolz die Verantwortung ihrer Religionen für den Frieden zu übernehmen!« Das waren die Worte von Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko im März. Kiew solle zur »Hauptstadt der Menschlichkeit, der Spiritualität und des Friedens« werden. Dieser Aufruf war der Anfang jener Idee, die jetzt umgesetzt wurde. Kiew war damals nahezu umzingelt von der russischen Armee. In Butscha, Irpin und Hostomel wurde damals gemordet, und niemand wusste, ob Kiew eine Belagerung bevorstehen würde.
Organisiert hat den Besuch der Delegation das Babyn-Jar-Zentrum, »weil wir auch schon vor dem Krieg ähnliche Aktivitäten durchgeführt haben«, sagt Maksym Rabinovych. Und die Kooperation mit der Stadt ist seit jeher eng – Wladimir Klitschko, der Bruder des Bürgermeisters, sitzt im Vorstand des Zentrums.
Mehr als ein Dutzend Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften aus Europa und den USA waren mit dem Bus aus Warschau angereist.
In Babyn Jar versammelten sich die Teilnehmer der Delegation auch zu einem Gebet – an jenem Ort, an dem 1941 SS- und Wehrmachtseinheiten innerhalb von zwei Tagen 33.000 Juden erschossen haben. Der Bezug zur Gegenwart lag in der Luft.
Raketen Das Babyn-Jar-Zentrum ist das dokumentarische Herz in der Ukraine, wenn es um die Geschichte des Holocaust geht. Und es ist ein Zentrum, das dieser Krieg ebenso getroffen hat wie so viele andere Institutionen. Am 1. März schlugen russische Raketen nahe dem Babyn-Jar-Zentrum ein. Das eigentliche Ziel dürfte aber der nahe Fernsehturm gewesen sein. Und nun liegen alle baulichen Projekte des Zentrums auf Eis. Derzeit wird nur virtuell gearbeitet.
»Sie bombardieren einfach die gesamte Ukraine«, sagt Maksym Rabinovych. »Es ist ihnen egal, was sie treffen: Museen, Denkmäler, Friedhöfe.« Es sei aber durchaus »symbolisch, dass sie auch jüdische Friedhöfe bombardieren«, meint er. Denn da sei dieser Spruch, dieses Mantra »Nie wieder«. Aber genau das täten sie jetzt wieder: »Sie bombardieren. Sie bombardieren jüdische Denkmäler, Menschen, Stätten.«
Augen öffnen, Bewusstsein schaffen – darin sieht Rabinovych die Kernideen des Unternehmens, führende Religionsvertreter nach Kiew zu bringen. »Viele Menschen wissen nicht, was im Moment passiert«, sagt er. Und eben auch religiöse Führer wüssten das oft nicht. Religion sei aber ein wichtiger Teil des menschlichen Lebens. Und so müssten eben auch religiöse Führer wissen, was passiere, müssten sich selbst ein Bild davon machen. Denn nur so könnten sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen auch an ihre Gemeinden weitergeben.
expertise Und dann ist da abseits der organisatorischen Expertise vor allem noch ein Grund, wieso ausgerechnet das Babyn-Jar-Zentrum den Besuch der Delegation organisiert habe: »Es ist für uns sehr wichtig festzustellen, dass es sich nicht nur um einen Krieg handelt, sondern um einen Genozid.«
Denn: »Alle Rhetorik aus Russland zielt darauf ab, dass die ukrainische Nation nicht existiert«, sagt Rabinovych. Deshalb würden Gedenkstätten, Museen, Denkmäler, historische Orte angegriffen. »Der Holocaust ist beispiellos. Aber das hier ist ein Genozid.«