Großbritannien

Beten im Schatten

Über der großen Eingangstür zum Hof steht »Schaar HaSchamajim« – Tor des Himmels. Es ist bewölkt an diesem Septembermittwoch, doch das Tageslicht strahlt in den gepflasterten ruhigen Hof mitten in London. »Unsere Synagoge ist − abgesehen von Bethäusern in Jerusalem − die weltweit einzige, in der bis heute ohne Unterbrechung gebetet wird«, sagt Rabbi Shalom Morris stolz. Der 41-jährige New Yorker amtiert seit einigen Jahren in der portugiesisch-sefardischen Synagoge Bevis Marks.

Die zwischen anderen Gebäuden separat stehende Synagoge mit ihren riesigen Fenstern stammt aus dem Jahr 1701. Sie blieb bis heute nahezu unverändert. Hier wird nicht nur gebetet oder im Hof geheiratet, auch Menschen ohne jüdische Herkunft pilgern hierher, um die originalgetreue Architektur und Inneneinrichtung zu bestaunen. Bevis Marks ist zudem das einzige nichtchristliche Gotteshaus in der City of London, dem Banken- und Finanzviertel der Stadt.

EAST END Gleich hinter der Synagoge beginnt das Londoner East End. In jenem Viertel siedelten sich Anfang des 20. Jahrhunderts Zehntausende Juden an, die vor Pogromen und Hungersnöten aus Osteuropa geflüchtet waren. Im East End fanden sie billige, wenn auch oft schäbige Unterkünfte. Später erschwerten die ersten britischen Einwanderungsgesetze die Einreise weiterer Flüchtlinge.

Bevis Marks überlebte den sogenannten Blitz 1940/41, die Angriffe der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, unversehrt und erlitt auch bei den Bombenangriffen der nordirischen Terrororganisation IRA (Irish Republican Army) 1992 und 1993 auf die City nur geringen Schaden.

So steht das Bethaus aus rotbraunen Ziegeln bis heute, während die meisten der ehemaligen jüdischen Nachbarn im East End in andere Bezirke der Stadt weitergezogen sind. Die Umgebung wandelte sich, doch Bevis Marks blieb so wie immer. Die hier betende Gemeinde kommt heute aus ganz London zu den Gottesdiensten zusammen.

Bima Rabbi Morris betritt die Synagoge. Hinter einer Eingangswand erstrecken sich Sitzreihen aus dunklem Holz. In deren Mitte erhebt sich die Bima, wo Morris bei den Gottesdiensten oft steht und aus der Tora liest. Seit der Pandemie ist die Bima mit einer Plastikscheibe zum Schutz vor Corona versehen. Am hinteren Ende des großen Innenraums stehen in großen goldenen hebräischen Buchstaben die Zehn Gebote über dem ebenfalls vergoldeten und verzierten Hechal, dem Toraschrein. Von der Decke hängen Kronleuchter mit Hunderten Kerzen, die alle noch von Hand angezündet werden müssen.

Der Raum strahlt etwas Majestätisches aus und wirkt doch durch seine Stille und das besondere Licht meditativ auf den Besucher: ein Ort der inneren Einkehr, der Andacht, des Gebets und des Feierns.

Als plötzlich die Sonne durch die Wolken lugt, dringt helles Licht durch die riesigen Fenster ins Gebäude hinein und wirft vielfältige Schatten in den Innenraum. »In unseren Gottesdiensten können wir dieses Licht empfinden und spüren, wie es zusammen mit dem zartfeuchten und holzigen Geruch und den überlieferten Melodien, die in keiner anderen Synagoge so gesungen werden, eine einzigartige Atmosphäre schafft«, sagt Morris und lächelt verträumt. Doch dann verändert sich seine Miene: Er erzählt, wie besorgt er sei, dass all dies bald ein Ende haben könnte.

Ältere könnten bei dem wenigen Licht nicht mehr die Gebetbücher lesen.

Die Planungsbehörde der City of London Corporation könnte unmittelbar vor der Synagoge im Osten und Süden, genau dort im Licht der Sonne, einen rund 180 Meter hohen und 48-stöckigen Wolkenkratzer und ein weiteres Gebäude mit 21 Etagen genehmigen. Die beiden Hochhäuser würden der Synagoge das letzte Licht nehmen.

Bereits 2018 wurde auf der Westseite des Bethauses ein 56-stöckiges Gebäude genehmigt. Zahlreiche andere Büro­türme, die alle in den vergangenen 25 Jahren entstanden sind, blockieren schon jetzt die Sicht.

PRIVATSPHÄRE »Wir werden in Zukunft vielleicht nur noch eine Stunde Licht haben und unsere geschützte Privatsphäre vollkommen verlieren«, klagt Morris. »Der durch die riesigen Gebäude entstehende Wind könnte uns buchstäblich die Ziegel vom Dach blasen, prophezeien Experten.« Andere Experten gaben nicht nur an, dass die zusätzliche Lichtblockade das Licht um nahezu die Hälfte verringern würde und dass es nicht möglich wäre, in diesem denkmalgeschützten Gebäude ausreichend künstliches Licht zu installieren.

All das könnte fatale Folgen für die Gemeinde haben, etwa weil die Helligkeit gerade für ältere Personen nicht mehr zum Lesen der Gebetbücher ausreichen würde. Hinzu kommt, dass der ursprüngliche Gedanke, dieses Bethaus möge von himmlischem Licht durchströmt werden und den Himmel sichtbar machen − sei er voller Sonnenlicht oder mit Sternen bedeckt, beides sind wichtige Kriterien, die den Zeitpunkt für die Gebete markieren –, zerstört werden würde.

Für viele Bewunderer und den Großteil der Beter ist Bevis Marks das jüdische Äquivalent zur Londoner Bischofskirche St Paul’s Cathedral. Für diese sei jedoch, anders als für Bevis Marks, gesetzlich festgelegt, dass nichts gebaut werden darf, was die Sicht auf das Gebäude aus der Ferne nimmt, so Morris.

Einwände Inzwischen sind gegen die geplanten Glas- und Stahlgiganten mehr als 1500 Einwände geschrieben worden. Sie kamen von Wissenschaftlern und von Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft – darunter auch der britische Oberrabbiner Ephraim Mervis –, aber auch von Kirchengemeinden, die sich solidarisieren, und auch von der staatlichen Denkmalschutzbehörde Historic England.

Dass auch sie den Bau der Wolkenkratzer verurteilt, könnte am Ende ausschlaggebend sein. »Der versteckte Hof und die eingeschlossene Umgebung stellen einen wichtigen Teil der Synagoge dar und erhöhen ihre Einzigartigkeit«, so die Denkmalschützer. »Obwohl große Teile bis heute erhalten sind, schwand der intime und private Charakter sowie die Bedeutung dieses Hofes in letzter Zeit durch hohe Bauobjekte immer mehr.« Die Behörde stellt weiter fest, dass die Qualität des natürlichen Lichts wichtiger Bestandteil des Charakters und des Ambientes des Gebäudeinneren ist.

Auf die Frage, ob sich Historic England in der Vergangenheit schon einmal mit diesen Gründen gegen den Bau hoher Gebäude ausgesprochen habe, verweist Tom Foxall, der Londoner Chef der Behörde, auf einen geplanten Aussichtsturm namens »The Tulip« in der Nähe des weltberühmten Tower of London. »Während der öffentlichen Anhörung hierzu äußerten wir ernste Bedenken unter anderem zu den Auswirkungen auf den intimen Charakter des inneren Teils des Tower«, so Foxall. Eine Entscheidung hierzu stehe noch aus, werde aber bald erwartet.

AUSWIRKUNGEN Auch Sir Michael Bear, ehemaliger Lord Mayor Londons, der früher qua Amt Mitglied der Planungsbehörde war, die nun über die Hochhäuser entscheidet, reagierte perplex auf die Pläne um Bevis Marks und ihre Auswirkungen auf Wind, Licht und die Community. »Es zeigt vollkommene Missachtung eines überlebenden Beispiels in originaler Einrichtung des Christopher-Wren-Stils in der City (Wren war der Architekt der St Paul’s Cathedral, Anm. d. Red.)

Nach Auskunft der City of London Corporation wird die Entscheidung bald fallen; viele schätzen, bereits im Oktober. In den nächsten Tagen wollen sich einige Mitglieder der Planungsbehörde vor Ort ein Bild machen. »Es war eine etwas schwierige Angelegenheit, da sie nicht von uns eingeladen werden wollten, sondern die Einladung zum Besuch erst auf Vorschlag ihres Vorsitzenden annahmen«, erzählt Morris.

Die Gemeinde hofft, dass sich Londons Bürgermeister einschaltet.

Der Rabbiner und seine Gemeinde hoffen darauf, dass der Bau der riesigen Hochhäuser abgelehnt wird. Dass die historische und kulturelle Verbundenheit vor Ort in den vergangenen anderthalb Jahren durch die Corona-Pandemie zugenommen hat, sieht Morris als gutes Zeichen. Es gebe heute mehr Menschen, die sich dafür einsetzen, dass solch gigantische Bauten vor einem so historischen Gebäude wie Bevis Marks verhindert werden.

Interesse Im kommenden Sommer möchte die Gemeinde das restaurierte Besucherzentrum der Synagoge wiedereröffnen. Bei einem Nein zu den Hochhäusern wäre seine Freude darüber dann doppelt so groß, sagt Morris. Dankbar ist er, dass ausgerechnet Prinz Charles Schirmherr der Restaurierung ist. »Vielleicht hilft ja dieses königliche Interesse ein bisschen.«

Und wie stehen die Chancen? »Die Pla­nungsbehörde hat 35 Mitglieder. Eine Mehrheit mit 18 Stimmen würde reichen«, sagt Morris. Sollte es jedoch anders ausgehen, bleibt der Synagoge noch die Hoffnung auf den Einwand der Regierung. Und vielleicht komme ihnen ja auch Londons Bürgermeisters Sadiq Khan zu Hilfe. Der versteht sich selbst als »Freund jüdischer Gemeinden« – auch wenn er sich bisher noch nicht zu den Plänen um Bevis Marks geäußert hat.

www.savebevismarks.org

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