»Janusz Korczak« steht auf dem symbolischen Grabstein im Vernichtungslager Treblinka. Alle anderen Steine ragen scharfkantig und schwarz, mal kleiner, mal größer in den Himmel. Auf vielen ist der Name eines Ortes eingraviert, dessen jüdische Gemeinde von den Nazi-Deutschen ausgelöscht wurde. Der größte steht für Warschau, die Hauptstadt Polens, dessen jüdische Gemeinde vor dem Zweiten Weltkrieg rund 350.000 Mitglieder zählte. Die meisten kamen in Treblinka um, rund 120 Kilometer nordöstlich von Warschau.
»Raus, raus!«, schrien SS-Männer am 5. August 1942, als im jüdischen Waisenhaus in der Sienna-Straße knapp 200 Kinder und ihre Erzieherinnen beim Frühstück saßen. Korczak, der berühmte Arzt und Pädagoge, der eigentlich Henryk Goldszmit hieß, hatte diese Situation in seinem Ghettotagebuch vorhergesehen. In der Hast fiel seine Brille zu Boden und zerbarst. Er vergaß, das Tagebuch in seinem Zimmer zu holen – so wurde es für die Nachwelt gerettet.
Güterwaggon Auf den Tischen blieb der Tee dampfend stehen. Der 64-Jährige setzte sich an die Spitze des langen Kinderzuges, müde, gebeugt und schwerkrank. Kinder aus knapp einem Dutzend weiterer jüdischer Waisenhäuser im Ghetto mussten sich dem Zug anschließen. Stunden später am Umschlagplatz wurden er, die Erzieherin Stefania Wilczynska und die Kinder zum letzten Mal gesehen.
Ob er in den Gaskammern von Treblinka umkam oder schon vorher auf der Zugfahrt in einem Güterwaggon unter der sengenden Augustsonne, konnte nie geklärt werden. Jahre später legte ein Gericht in Lublin seinen Todestag auf den 7. August 1942 fest.
Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war Janusz Korczak dreimal nach Palästina gereist, um zu prüfen, ob es dort für ihn und die Waisenkinder ein neues Zuhause geben könnte.
Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war Henryk Goldszmit dreimal nach Palästina gereist, um zu prüfen, ob es dort für ihn und die Waisenkinder ein neues Zuhause geben könnte. Denn der Antisemitismus, der Goldszmit sein ganzes Leben lang begleitete, wurde nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland auch in Polen immer aggressiver.
Der Pädagoge sah für die junge Generation der polnischen Juden keine Zukunft mehr in Polen. Doch er kam zurück. »Ich liebe die Weichsel bei Warschau, und ich habe brennendes Heimweh nach Warschau, wenn ich fern von ihm bin«, schrieb er im Mai 1942 in sein Ghettotagebuch.
HERKUNFT Hineingeboren in eine wohlhabende jüdische Anwaltsfamilie, schien der kleine Henryk das große Los gezogen zu haben. Die Familie wohnte auf dem Boulevard Krakowskie Przedmiescie zwischen Universität und altem Königsschloss.
Doch als er fünf Jahre alt war und seinen geliebten Kanarienvogel unter einem Baum begraben wollte, begriff er, dass man anscheinend nicht Pole und Jude zugleich sein konnte. Die Hausangestellte verbot ihm, auf das Grab ein kleines Kreuz zu stellen, da der Vogel kein Mensch sei, sondern weit unter ihm stehe. Schlimmer noch aber sei der Ruf des katholischen Hausmeistersohnes gewesen: »Der Kanare ist ein Jude!«
Der Pädagoge sah für die junge Generation der polnischen Juden keine Zukunft mehr in Polen.
Im Ghettotagebuch von 1942 schildet Korczak alias Goldszmit seinen damaligen Schock: »Aber ich bin doch auch Jude. Bin ich also kein Mensch?« Als Jahre später in Warschau ein Literaturwettbewerb ausgeschrieben wird, bewirbt sich der jüdische Abiturient Henryk Goldszmit unter dem polnisch klingenden Pseudonym Janusz Korzcak mit einem eigenen Text. Er gewinnt den ersten Preis.
absturz Prägend für sein ganzes weiteres Leben ist der soziale Absturz der Familie. Der Vater kommt von seiner Spielsucht nicht los und verliert sehr viel Geld. Zudem muss er immer öfter in die Psychiatrie eingewiesen werden. Als er stirbt, ist vom einstigen Vermögen nichts mehr übrig, und die kleine Familie muss in eine billige Mietwohnung umziehen. Goldszmit, der sich seit dem Literaturwettbewerb nur noch Korczak nennt, wird sein ganzes Leben dem Kampf für die Würde und Rechte der Kinder widmen.
Das Andenken an Korczak und seine Reformpädagogik ist in Polen sehr lebendig. Obwohl die Nazis die Innenstadt Warschaus zerstörten, erinnern bis heute etliche Gebäude und Denkmäler an sein Wirken. So steht das jüdische Waisenhaus »Dom Sierot«, dessen Direktor er war, bis heute. 1912 war es nach seinen Entwürfen gebaut worden.
1993 fand hier die Forschungsstelle »Korczakianum« ihr Domizil, mitsamt einer kleinen Ausstellung. Seit einiger Zeit ist das Haus allerdings geschlossen.