Es kommt nicht oft vor, dass die jüdische Gemeinschaft Antwerpens auf der Titelseite einer belgischen Zeitung landet. Im Stadtbild auffällig, lebt sie gleichsam zurückgezogen in wenigen zentrumsnahen Vierteln der Metropole. Umso mehr Wellen schlug es, als die regionale Tageszeitung Gazet van Antwerpen kürzlich wie folgt aufmachte: »Extreme Zensur in jüdischen Schulen«. Die Vorwürfe: In Lehrbüchern würden auf Zeichnungen missliebige Details mit schwarzem Stift unkenntlich gemacht, so zum Beispiel nackte Frauenarme, ein Bauchnabel oder zwei Menschen, die sich küssen. Zudem würde die Evolutionstheorie aus den Büchern entfernt. Nicht allein in privaten, sondern auch in Schulen, die staatlich bezuschusst werden, hätten die leitenden Lehrer zur freiwilligen Selbstkontrolle gegriffen.
Kronzeugen Damit war der Startschuss gefallen. Seither berichteten fast alle flämischen Zeitungen darüber. Zumal die Gazet Anfang November nachlegte und drei Lehrer der staatlich subventionierten Jesode-Hatorah-Schule als – anonyme – Kronzeugen präsentierte. Diese nannten die Zu- stände »schlimmer als je zuvor« und er- zählten, die Schule habe auch Ausflüge oder Reisen in europäische Städte vom Programm gestrichen, um die Kinder dort nicht mit dem anderen Geschlecht, nackten Körpern, Kirchen und Museen zu konfrontieren. »Durch die Zensur«, so eine Lehrkraft, »werden die Kinder in ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder der Universität beschränkt.«
Jüdische Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Den Anfang machte Michael Freilich, Chefredakteur der Antwerpener Zeitschrift Joods Actueel. Er berichtet von Schulausflügen seines fünfjährigen Sohnes an die Nordsee und in ein katholisches Krankenhaus – »mit großem Kreuz an der Wand«. Zwar fielen bisweilen Passagen aus Büchern der internen Schere zum Opfer, der Lehrplan aber werde in staatlich bezuschussten jüdischen Schulen »vollständig gegeben«, zumindest seit einem Abkommen zwischen den Schulen und der Aufsichtsbehörde des Bildungsministeriums, so Freilich. Demnach würden sowohl Evolutionslehre als auch Sexualkunde unterrichtet – »von einer jüdischen Lehrkraft im Rahmen der Lebenswelt der Kinder«. Dies sei ein Fortschritt, bilanziert Freilich, denn in seiner eigenen Schulzeit vor 15 Jahren seien solch »heikle Themen« nicht zur Sprache gekommen.
Unterstützung bekam der Journalist aus berufenem Munde: Der großen Mehrheit jüdischer Schulen sei nichts vorzuwerfen, befand der Lehrer Paul van Suetendael, der seit fast 30 Jahren am Tachkemoni Atheneum Antwerpen unterrichtet. In einem Leserbrief an Joods Actueel nuanciert Suetendael, nur einige ultraorthodoxe Institutionen wendeten »diese strenge Zensur« an. An seiner Schule hingegen habe er »nie irgendeine Form von Zensur erlebt«. Vielmehr unterhalte sie ein Austauschprojekt mit einer nichtjüdischen Schule oder habe den Autor Herman Brusselmans eingeladen, der bevorzugt über Sexualität und Alkoholexzesse schreibt. Außerdem: Getrennten und bedeckten Schwimmunterricht gebe es auch bei gläubigen Muslimen.
pornofizierung Beide Reaktionen zeigen, dass der Tatbestand der Zensur durchaus im Auge des Betrachters liegt – ebenso wie die Kosten-Nutzen-Rechnung, in deren Kontext das Thema offenbar zu lesen ist. Wenn Wim van Rooy, früher Direktor zweier jüdischer Schulen in Antwerpen, von einem Messer spricht, »das an zwei Seiten schneidet«, meint er damit, dass die jüdische Gemeinschaft Kinder gegen die »Pornofizierung der Gesellschaft, Drogen und Gewalt« beschütze, damit aber ihre Möglichkeiten keineswegs beschränke.
Allerdings räumt van Rooy übervorsichtigen Umgang mit dem Nachwuchs ein. Andererseits habe er an jüdischen Schulen noch nie eine gewaltsame Situation erlebt. Dass diese neben der Evolutionstheorie »exakt nach Lehrplan« auch dem Kreationismus Platz gewähren, sieht der überzeugte Atheist van Rooy nicht als Problem. Seine Folgerung ist so bitter wie hochaktuell: »Es scheint, als müssten Antwerpens Juden es ausbaden, dass das multikulturelle Projekt in Europa gescheitert ist.«
Kontrollbehörde Differenziert fiel der Kommentar von Unterrichtsminister Pascal Smet aus. Während er durchgestrichene oder übermalte Arme akzeptabel findet, hält er es für einen »schweren Übergriff«, wenn eine subventionierte Schule die Evolutionstheorie aus den Büchern entferne. Ignoriert eine solche Einrichtung eventuelle Beanstandungen der Kontrollbehörde, kann sie Zuschüsse und Anerkennung verlieren.
Vorwürfe, die jüdischen Schulen würden kaum kontrolliert, weist das Ministerium zurück. Erst vor fünf Jahren wurden drei von ihnen geschlossen, und bei der letzten Kontrolle gab es bei rund der Hälfte Beanstandungen. Welcher Art, wollte Ministeriumssprecher Jeroen Janssens der Jüdischen Allgemeinen nicht sagen. Ursache einer Beschwerde könne aber schon eine nicht funktionierende Toilette sein.
Auf Distanz geht man auch zur schwersten aller Anschuldigungen: Ein positiver Bescheid der Kontrollbehörde soll käuflich sein. Dies behauptet zumindest eine der drei anonymen Lehrkräfte der Jesode-Hatorah-Schule: Dazu würden »die richtigen Verbindungen an die richtigen Stellen« benötigt. Peter Michiels, Generalinspektor der Schulbehörde, versichert, die Kontrollteams bestünden aus mehreren Personen in wechselnder Zusammenstellung, und die Kriterien seien für alle Schulen gleich.
In der hitzigen Diskussion der vergangenen Wochen wurde nicht zuletzt eines klar: Die hier verhandelten Themen sind längst nicht nur jüdische. Während einer spontanen Diskussion im flämischen Parlament wies die Sozialdemokratin Kathleen Deckx darauf hin, die Evolutionstheorie werde »auch von einigen evangelischen Schulen im Antwerpener Raum« abgestritten. Für Lehrer van Suetendael indes ist die Zensur der Schoa im muslimischen Geschichtsunterricht »das viel größere Problem«.