Brüssel

Belgiens Juden: »Import des Konflikts bringt uns in Gefahr«

Dyab Abou Jahjah ist Listenführer von VIVA Palästina Foto: imago/Belga

Am 9. Juni werden in Belgien nicht nur die Abgeordneten zum Europäischen Parlament gewählt. Auch die föderale Abgeordnetenkammer sowie die verschiedenen Parlamente der Regionen und der drei Sprachgemeinschaften werden neu besetzt. Eines der brennenden Themen der belgischen Politik ist auch der Nahostkonflikt.

Die Forderungen nach Sanktionen gegen Israel mehren sich. Vergangene Woche sprach sich der ehemalige Präsident der Abgeordnetenkammer, der Sozialist André Flahaut, sogar für den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum jüdischen Staat aus.

Über die traditionellen Parteien von ganz rechts bis ganz links hinaus bekommen die Wähler in Brüssel nun eine weitere Option: In der Hauptstadtregion hat die Initiative VIVA Palästina nun eine Wahlliste für das Regionalparlament eingereicht.

Die Forderungen von VIVA Palästina fallen zwar eher in den Bereich Außenpolitik, für die der Brüsseler Landtag gar nicht zuständig ist. Angesichts der medialen Aufmerksamkeit, die das Thema Gaza seit Monaten in Belgien genießt, erscheint es aber durchaus im Bereich des Möglichen, dass VIVA Palästina einen der 17 Sitze, die für niederländischsprachige Abgeordnete im Parlament der belgischen Hauptstadt reserviert sind, erobern könnte.

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In einem auf der Webseite der Initiative veröffentlichten Aufruf heißt es: »Wir befinden uns in einem entscheidenden Moment der Geschichte, in dem die Wahrheit, auch wenn sie oft verschleiert wird, nicht ewig verborgen bleiben kann. Im Herzen des Gazastreifens findet ein rücksichtsloser Völkermord statt, der von Experten auf der ganzen Welt zunehmend anerkannt wird, aber von vielen Medien und Politikern immer noch alarmierend ignoriert wird. Im Westjordanland herrscht derweil ein Apartheidregime, dessen Brutalität selbst die dunkelsten Kapitel der Geschichte Südafrikas übertrifft. Diese harte Realität wird von Menschenrechtsorganisationen, Experten und sogar ehemaligen Mossad-Führern anerkannt, gleichzeitig aber von den meisten Politikern in Brüssel, Belgien und der Europäischen Union geleugnet.«

»Epizentrum des Kampfes gegen Apartheid in Palästina«

Die Kernforderung von VIVA Palästina: »Brüssel, das Herz der EU, muss zum Zentrum der Unterstützung für die palästinensische Sache werden.« Für die Kandidatur zum Regionalparlament im Juni hat sich die Initiative konkrete Ziele gesteckt. So will sie erreichen, dass das Parlament den angeblichen »Völkermord« Israels in Gaza als solchen anerkennt und die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.

Außerdem, so VIVA Palästina, soll das »Apartheidregime in Palästina« beseitigt und mit »strengen Sanktionen« sowie »Boykottmaßnahmen« belegt werden. Auch Israels Unterstützer sollen diese zu spüren bekommen. Die Region Brüssel will VIVA Palästina zum, so wörtlich, »globalen Epizentrum des Kampfes gegen Kolonialismus und Apartheid in Palästina« machen.

Belgischen Medienberichten zufolge wurde die Kandidatur durch die Unterstützung einer Politikerin der flämischen Open VLD ermöglicht.

Angeführt wird die Wahlliste von Dyab Abou Jahjah. Der 1971 im Libanon geborene Schriftsteller und Aktivist ist Nachfahre palästinensischer Flüchtlinge – und landesweit seit langem umstritten. Abou Jahjah kam Anfang der 90er Jahre nach Belgien, erwarb 1996 durch die schnell wieder geschiedene Ehe mit einer Belgierin die belgische Staatsbürgerschaft.

Anfang der Nuller Jahre gründete er eine umstrittene »Bürgermiliz«, die der belgischen Polizei wegen angeblichen Rassismus auf den Zahn fühlen sollte. Abou Jahjah sprach sich für die Einführung der Scharia in Belgien aus – als »Gedankenexperiment«, wie er später klarstellte. 2004 begrüßte Abou Jahjah die Tötung westlicher Truppen im Irak und sagte, er betrachte »jeden toten amerikanischen, britischen oder niederländischen Soldaten als einen Erfolg.«

Umstrittene Aussagen

Während des Kriegs der Hisbollah gegen Israel 2006 leistete Abou Jahjah im Libanon Militärdienst. Es gab sogar Gerüchte, er habe sich der schiitischen Hisbollah angeschlossen. In Belgien kamen bereits damals Forderungen auf, ihm wegen Unterstützung der Terrormiliz die Einreise zu verweigern. Einige Jahre blieb Abou Jahjah in seinem Geburtsland, bevor er schließlich 2013 doch nach Belgien zurückkehrte und sich als Publizist und Anwalt muslimischer Einwanderer versuchte.

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Nach dem Terroranschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel im Mai 2014 nannte Abou Jahjah den Antwerpener Bürgermeister und N-VA-Parteivorsitzenden Bart De Wever einen »zionistischen Dudelsackspieler«, weil dieser zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen für jüdische Einrichtungen gefordert hatte. Im gleichen Jahr wurde Abou Jahjah Kolumnist für die flämische Tageszeitung »De Standaard«. Dort war 2017 aber schon wieder Schluss für ihn - auf seiner Facebook-Seite hatte er einen Terroranschlag in Jerusalem mit den Worten gerechtfertigt, »die Befreiung Palästinas« von israelischer Besatzung müsse schließlich »mit allen notwendigen Mitteln« erfolgen.

Gemeinsam mit flämischen Sozialdemokraten gründete er die Bewegung Be.One, mit der er 2018 zu den Kommunalwahlen und ein Jahr später zu den Europa-, Föderal- und Regionalwahlen in Belgien antrat – allerdings mit bescheidenen Ergebnissen.

Mit VIVA Palästina wagt Abou Jahjah nun politisch den Neustart. Die Brüsseler Regionalpolitik, in der es zuvörderst um Städtebau, Verkehrspolitik und Infrastruktur geht, interessiert ihn dabei wahrscheinlich nur bedingt. Stattdessen hat sich Abou Jahjah auch medial längst auf seinen Hauptfeind eingeschossen: Israel. Am Dienstag schrieb er auf X (Twitter): »Ich ärgere mich über diejenigen, die nur empört sind, wenn Westler getötet werden, während sie von dem umfassenden Völkermord an den Palästinensern unberührt bleiben. Sie sind derselbe rassistische Abschaum wie die Täter dieses Völkermords.«

Vergangene Woche stellte er nicht zum ersten Mal Israel und das NS-Regime auf eine Stufe: Die Aussage, Israel habe das Recht, sich zu verteidigen, sei das »Sieg Heil unserer Zeit«, so Abou Jahjah. Und die Zeitung »La Libre Belgique« veröffentlichte am Mittwoch ein weiteres problematisches Zitat des Politikers: »Egal, ob Juden oder Nichtjuden, wir werden sie immer von unserem Land vertreiben«, soll Abou Jahjah vor einiger Zeit geäußert haben.

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Die zunehmend israelfeindliche Stimmung in Belgien hat auch andere politische Parteien erfasst. Und sie hat direkte Auswirkungen auf die rund 40.000 Mitglieder umfassende jüdische Gemeinschaft des Landes. Am Mittwoch wandten sich die Vorsitzenden der beiden jüdischen Dachverbände des Landes, CCOJB und FJO, in einem gemeinsamen Brief an Premierminister Alexander De Croo.

Belgiens Juden befänden sich aktuell, so Yves Oschinsky und Regina Sluszny, »in tiefer Sorge um die eigene Sicherheit, da sie große Anfeindungen verspüren.« Dafür sei auch die belgische Politik und De Croo persönlich mitverantwortlich. »Seit Sie zusammen mit Ihrem spanischen Kollegen (Pedro Sánchez) in den Nahen Osten gereist sind, hat sich Ihre Wortwahl hin zu einer starken Feindseligkeit gegenüber Israel verändert, wobei Belgien mit seiner Radikalkritik der israelischen Gegenreaktion (auf den Hamas-Anschlag) europaweit führend ist.«

Es sei, so Oschinsky und Sluszny weiter, der »Import des Konflikts, der uns direkt in Gefahr bringt und uns in höchstem Maße beunruhigt.»Die beiden jüdischen Verantwortlichen forderten De Croo zu einer ausgewogeneren Haltung im Nahostkonflikt auf. Zwar bestehe noch »Hoffnung, dass es in Belgien zu einer Deeskalation der gegenwärtigen extremen Polarisierung kommt.« Aber, so die deutliche Warnung an den Premier: »Indem Sie Israel im Stich lassen, lassen Sie auch Ihre jüdische Gemeinschaft im Stich.«

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