Nordirak

Beim Grabe des Propheten

Sanft legt Sargon seine Hände auf das grüne Leintuch, das das Grab bedeckt. Es ist ein heißer Tag, der junge Mann wischt sich den Schweiß von der Stirn und atmet tief aus. Der Tradition zufolge liegt hier in der Synagoge der Prophet Nachum begraben, einer der sogenannten zwölf »kleinen« Propheten. Viel ist über ihn nicht bekannt. Eigentlich weiß man nur, dass er im siebten Jahrhundert v.d.Z. lebte, denn er erwähnt die Eroberung von Theben (663 v.d.Z.) als Ereignis der Vergangenheit und prophezeit die Zerstörung von Ninive (612 v.d.Z.).

Sargon zieht seine Hand vom Leintuch zurück und schreitet eine Runde um das Grabmal. An dessen Fuß bleibt er stehen, hält beide Hände mit den Innenseiten an die Brust und spricht ein Gebet.

prophet Sargon ist Mitglied einer bewaffneten assyrischen Miliz namens Dwekh Nawsha, was auf Deutsch so viel wie »Aufopferung« heißt. Das Grab des Propheten liegt in einer kleinen christlichen Stadt namens Alqosh im Nordirak. Sargon kommt aus Baqufa, einem kleinen Dorf etwa zehn Kilometer südlich von Alqosh. Das wäre an sich nichts Besonderes – wenn nicht die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) 20 Kilometer weiter südlich an der Straße nach Mossul stehen würde.

Sargon ist Mitte 20, ein junger, durchtrainierter Bursche. Er unterbrach sein Ingenieurstudium, als vergangenes Jahr im August die Milizen des IS Mossul einnahmen. Sein Heimatdorf Baqufa gehört zu den Vororten der Millionenstadt.

Schnell wurde ihm und den anderen Einwohnern des Dorfes klar, dass ohne Gegenwehr der IS auch bald nach Baqufa kommen würde. Die irakische Armee war nahezu kampflos geflohen und hatte die Einwohner sich selbst überlassen. Sargon und etwa 50 andere, vor allem junge Männer, ließen ihr ziviles Leben hinter sich, kauften Waffen und schlossen sich zur Dwekh Nawsha zusammen, um ihre Heimat zu verteidigen. Jetzt ist Sargon auf das Dach eines kleinen Hauses gestiegen, das der Dwekh Nawsha als Basis dient. Mit ausgestrecktem Arm fährt er von links nach rechts über den Horizont. »Ohne uns wäre hier schon alles längst im Herrschaftsbereich der Terroristen«, sagt er.

Minderheit Alqosh liegt in der Nähe von Dohuk, einer Millionenstadt nicht weit entfernt von der türkischen Grenze. Die Stadt und ihre Vororte sind Hochburgen der christlichen Minderheit im Irak. Die meisten Menschen, die hier leben, gehören einer der vier assyrischen Kirchen an. Die größte von ihnen ist die chaldäisch-katholische Kirche.

Die Assyrer haben eine eigene Sprache, das Aramäische. Weil sie im kurdischen Autonomiegebiet leben, sprechen aber alle auch Kurdisch. Zudem haben die meisten in der Schule Arabisch gelernt.

Knapp eine halbe Million Christen lebt heute noch im Irak. Juden gibt es im kurdischen Teil des Irak dagegen keine mehr. Bis vor etwa zehn, 15 Jahren lebten noch vereinzelt ein paar im Land. Die allermeisten haben den Irak bereits 1948, unmittelbar nach der Gründung des Staates Israel, verlassen und Alija gemacht. Der Vorstand der kleinen jüdischen Gemeinde in Alqosh übergab damals der assyrischen Familie Jajouhana die Schlüssel zur Synagoge und zu dem darin enthaltenen Grab Nachums und ging – für immer. Bis heute lebt die Familie Jajouhana neben der verfallenen Synagoge.

synagoge Wenn ein Besucher in Alqosh nicht weiß, was er sucht, würde er nie zufällig auf die Synagoge stoßen. Sie ist von außen nicht zu erkennen. Die Mauern sind teilweise eingestürzt, das Gelände ist zugewuchert. Eine Eisentür mit einer Kette davor schützt vor neugierigen Eindringlingen. Vor ein paar Jahren wollte eine Gruppe amerikanischer und britischer Ingenieure das Gebäude renovieren, aber dazu kam es nie. Von ihren Bemühungen zeugt heute nur ein Wellblechdach über der Synagoge. Das ursprüngliche Dach ist bereits zu großen Teilen eingestürzt.

Betritt man den Innenraum der Synagoge, wird sofort klar, dass es sich um ein jüdisches Bethaus handelt. Nicht zu übersehen sind bis heute hebräische Schriftzeichen an den Wänden. Alte Öllampen hängen von der Decke, und der Aron haKodesch ist noch zu erkennen, in dem früher die Torarollen aufbewahrt wurden.

Das grüne Tuch über der angeblich letzten Ruhestätte des Propheten sticht hervor, da es makellos und sauber ist. Man wäscht es ab und zu. An die Gitter um das Grab herum haben die wenigen Besucher der letzten Jahrzehnte grüne Stoffbänder geknotet.

Miliz Sargon und seine Kameraden von der Miliz hörten zwar schon als Kinder davon, dass es in der Nachbarschaft ihres Dorfes das Grab eines jüdischen Propheten geben soll. Mit eigenen Augen gesehen hatten sie es bisher aber noch nie.

Mit Respekt und Demut begutachten sie die Synagoge und machen Fotos von sich selbst vor dem Grab. Sie stellen der Familie Jajouhana, die den Schlüssel zum Grab hütet, Fragen – die allerdings unbeantwortet bleiben. Das Wissen um das Grab des Propheten ging mit den Juden von Alqosh, es wurde nie verschriftlicht. So ist vieles bis heute unklar – auch, ob Nachum hier tatsächlich begraben liegt.

Dem jüngsten Sohn der Familie, der heute für die Besucher die Synagoge geöffnet hat, ist die historische Fragwürdigkeit egal. Er ist vor allem den Jungs der Dwekh Nawsha dankbar: »Sie haben den IS davon abgehalten, Alqosh und damit auch die Synagoge zu zerstören. Aber ich bin mir sicher, dass die Zeit diese Aufgabe von selbst erledigen wird.«

Autonomie
Etwa 300 Kilometer Luftlinie von Nachums Grab entfernt liegt Erbil, die Hauptstadt des kurdischen Autonomiegebiets im Irak. Auch hier gab es bis 1948 noch ein jüdisches Viertel, es lag direkt am Fuß der Zitadelle – eine der ältesten kontinuierlich bewohnten menschlichen Ansiedlungen. Läuft der Besucher heute durch die Straßen, zeugt nichts mehr von der jüdischen Vergangenheit des Viertels. Die Synagogen wurden abgerissen, neue Gebäude errichtet. Dort, wo man früher betete, wird heute mit Metallwaren gehandelt. Alte Männer sitzen auf bunten Plastikstühlen nebeneinander und trinken Tee. Die jüdische Vergangenheit im kurdischen Irak scheint in Vergessenheit zu geraten.

Einer, der sich dem entgegenstellen will, ist Nasser Nader. Der 26-jährige Architekturstudent stammt aus dem Dorf Zoragvan hoch im Norden des Landes. Dort liegt das ursprüngliche Siedlungsgebiet des Stammes der Barsani. Auch Nader gehört ihm entfernt an. Die Barsanis waren immer eine treibende Kraft im Kampf für die Autonomie der Kurden im Irak. Heute stellen sie mit Masud Barzani den Präsidenten, und sein Neffe Necirvan Idris Barzani ist Premierminister.

»Ich glaube, ich kann nur dann eine bessere Zukunft für dieses Land gestalten, wenn ich die Vergangenheit kenne. Ich muss wissen, woher ich komme«, begründet Nader seine Studien zur jüdischen Geschichte in Kurdistan. Der junge Mann hat vor einiger Zeit angefangen, Hebräisch zu lernen. Er möchte jüdische Texte auch im Original lesen können. »Es gibt noch andere wie mich, die die Vergangenheit besser verstehen wollen. Wir haben viel jüdische Geschichte hier, aber wir sind immer noch zu wenige, die sie erhalten wollen.« Das große Interesse an Geschichte wurde Nader teilweise auch von seinem Onkel Saghi vermittelt. Der war Mitglied der Peschmerga, der kurdischen Verteidigungskräfte, und ließ sich in den 50er-Jahren in einem Trainingslager der israelischen Armee ausbilden.

Hebräisch
Da es im Norden des Irak keinerlei Einrichtungen gibt, an denen man Hebräisch lernen oder etwas über die jüdische Geschichte der Region erfahren kann, sind Online-Kurse für Nader die einzige Möglichkeit. Im Nachbardorf seines Heimatorts lebten lange vor seiner Geburt Juden, und noch heute zeugen jüdische Gräber auf dem örtlichen Friedhof davon. »Als Kind haben mich die zoroastrischen und die jüdischen Gräber sehr interessiert«, sagt Nader. Diese Vergangenheit sei ein wesentlicher Teil der Geschichte seines Stammes.

Unter den Barsanis sehr populär sind nicht nur der Präsident und sein Neffe an der Spitze der Regierung, sondern vor allem historische Persönlichkeiten wie Mosche Barsani, ein 1926 in Bagdad geborener jüdischer Kurde, der vor allem als Figur des bewaffneten Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung Israels bekannt wurde. Auch Sheikh Ahmad Barsani, der den Stamm der Barsani einte und Krieg gegen die britischen Kolonisten führte, verehrt man. Historische Quellen bezeichnen ihn zwar als Christen, doch Nader sagt: »Es ist unter Barsanis eine sehr verbreitete Meinung, dass er aus einer jüdischen Familie stammte und, wenn überhaupt, erst sehr spät zum Christentum konvertiert ist. Wissenschaftlich belegen kann man das jedoch bisher nicht.«

Weil Nader Architektur studiert, wälzt er nicht nur Geschichtsbücher, sondern besucht mit großem zeitlichen Aufwand entlegenste Ecken des Landes, um architektonische Spuren zu suchen, die jüdische Gemeinden hinterlassen haben.

mobiltelefon Auf seinem Mobiltelefon hat er Dutzende Fotos von Friedhöfen in ganz Kurdistan und von Gebäuden, die einmal jüdischen Familien gehörten. »Angeblich hat man vor einigen Jahren in einem alten Gebäude in Kirkuk sogar eine Torarolle gefunden«, sagt er. »Das Haus und die Rolle hätte ich zu gern gesehen!«

Naders größter Wunsch ist es jedoch, einmal lebendiges Judentum zu erleben. Deswegen plant er, im nächsten Jahr ein israelisches Visum zu beantragen: »Es ist mein größter Wunsch, das Heilige Land zu sehen, aber für irakische Bürger ist es sehr schwer, ein Visum zu bekommen.« Bis er den Antrag stellt, will er sich weiterhin um seine Studien kümmern. Und noch mehr ehemalige jüdische Stätten in Kurdistan ausfindig machen.

Zurück in Alqosh, rund zehn Autominuten vom Islamischen Staat entfernt, wird es Abend. Sargon und seine Männer stehen auf einem Berg, auf dem das Kloster Rabban Hurmiz errichtet wurde. Von hier aus lässt sich nicht nur Alqosh überblicken, auch Baqufa ist in der Ferne zu sehen. Da der IS stets nur in der Dunkelheit angreift, verschlechtert sich mit dem Anbruch der Nacht auch die Sicherheitslage. Das macht eine Rückkehr ins nahe gelegene, aber sichere Dohuk notwendig. Die Dwekh Nawsha aber bleibt. Sie und einige Peschmerga-Kämpfer sind das Einzige, was zwischen den radikalen Islamisten und dem Propheten Nachum steht.

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