Ein kleiner Junge hatte vor langer Zeit einmal Mühe, trocken zu werden. Das bereitete den Eltern Sorge, weshalb sie den Kinderarzt nach Hause riefen. Der Arzt, ein Mann alter Schule, konstatierte: »Seppli, hier riecht es aber übel!«, worauf der Junge fand: »Das mag ich eigentlich noch ganz gerne.«
Das war Ende der 50er-Jahre in Luzern. Aus Seppli ist einer der renommiertesten Schweizer Kinderärzte geworden, der heute als Pionier der praktischen Ausbildung gilt. Sepp Holtz hat zahlreiche pädiatrische Preise für seine Lehr- und Praxistätigkeit gewonnen und führte in Zürich mehr als 30 Jahre lang eine eigene Kinderarztpraxis. Er kann nicht nur auf vermutlich mehr als 100.000 Konsultationen zurückblicken, sondern vor allem auf eine Karriere, die an Erfahrungen und Expertise kaum zu überbieten ist.
Im vergangenen Jahr übergab Holtz seine Praxis an zwei junge Ärzte
Im vergangenen Jahr übergab Holtz seine Praxis an zwei junge Ärzte, die er beide in der Praxispädiatrie ausgebildet hat. »Kind im Zentrum« steht nach wie vor über dem Eingang. Daran wurde genauso wenig geändert wie an den Mesusot, die er einst an den Türrahmen hatte anbringen lassen. Aber im Gegensatz zu den kleinen Schriftkapseln, die für die nichtjüdische Klientel keine Bedeutung haben, ist der Name der Praxis sprechend, das Konzept klar: Es geht keineswegs nur um das Klinische an den kleinen Patientinnen und Patienten.
Vielmehr steht das Kind als Teil des familiären Systems im Zentrum. »Wenn ich den Begriff System benutze, so meine ich das Kind als ganze Persönlichkeit, aber auch seine Eltern, die mit all ihren Sorgen, die sie rund um das Kind beschäftigen, zum Kinderarzt kommen. Ein Baby zum Beispiel kann sich noch nicht äußern und sagen, was ihm fehlt oder wo es Schmerzen hat. Da bin ich auf die Mutter angewiesen. Sie ist in diesem Kontext der Schlüssel zum Kind«, erklärt Holtz.
Im Gespräch mit dem heute 67-jährigen Pädiater wird schnell klar, dass auch der Kinderarzt eine Art Schlüssel zum Kind ist, »oder sagen wir besser ein Dolmetscher«, wie Holtz seine Funktion bezeichnet. Darin sieht er seine Aufgabe oder eben das, was den Arzt ausmacht: »Dem Kind immer auf Augenhöhe begegnen und ihm das Maximum an Kontrolle zurückgeben.« Der Kontrollverlust beschäftigt Holtz schon lange in seiner Lehrtätigkeit. »Ein Arztbesuch bedeutet für ein Kind schnell das Aufgeben der eigenen Kontrolle. Wenn ein Kind mit Ohrenschmerzen zu mir in die Praxis kommt, dann finde ich den typisch klinischen Ansatz ›Zeig mir dein Ohr, ich muss mir das ansehen‹ nicht angebracht. Ich sage ihm, es könne entscheiden, ob ich zuerst das linke oder das rechte Ohr untersuchen soll. In diesem Moment gebe ich ihm ein Stück an Kontrolle zurück.«
Nachhaltig geprägt hat diesen Ansatz Remo Largo. Der 2020 verstorbene Schweizer Kinderarzt und Autor bekannter Elternratgeber wie Babyjahre und Kinderjahre war Mentor von Sepp Holtz. Largo ging ebenso immer vom Kind aus. Er leitete lange die Abteilung »Wachstum und Entwicklung« an der Universitäts-Kinderklinik Zürich und war einer der Ersten im deutschsprachigen Raum, der die Vielfalt unter den Kindern möglichst detailliert zu erfassen und die Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung besser zu verstehen versuchte.
Eine seiner großen Gaben ist es, die Welt durch Kinderaugen zu sehen.
Largo gilt bis heute als Koryphäe der Entwicklungspädiatrie – ein Begriff, der vor allem in der Schweiz gebräuchlich ist. Er entspricht weitgehend der Sozialpädiatrie in Deutschland. Sie befasst sich mit der Entwicklung und dem Verhalten von gesunden und kranken Kindern vom Säuglingsalter bis in die Adoleszenz. Sepp Holtz, selbst seit 1993 als Oberarzt in der Abteilung Entwicklungspädiatrie des Universitäts-Kinderspitals Zürich tätig, viele Jahre auch unter der Ägide von Remo Largo, hat im Lauf der Zeit rasch bemerkt, dass das psychosoziale Interesse immer wichtiger geworden ist.
»Früher waren Praxen hauptsächlich somatisch orientiert. Kinder mussten häufig wegen einer Hirnhaut- oder einer Lungenentzündung behandelt werden.« Diese Krankheitsverläufe seien dank umfassender Impfungen zurückgegangen. Da drängt sich die Frage auf, ob sich Kinder in den vergangenen Jahrzehnten generell stark verändert haben. »Sie stehen gewiss unter mehr Druck als früher«, sagt der Experte im Gespräch.
»Der Kinderarzt von heute muss sich über den Krankheitsverlauf hinaus den Themen stellen, die den Menschen als psychosoziales Konstrukt betreffen.« So habe er oft erlebt, dass Eltern unter einem Vorwand in die Praxis kamen. Das Kind hatte vielleicht Fieber, konnte mit Zäpfchen und Schmerzmitteln behandelt werden. Doch die Ursache für den Arztbesuch war eine völlig andere. Die Eltern seien zum Beispiel gerade in Trennung gewesen.
Nach wie vor bildet Sepp Holtz auch medizinischen Nachwuchs aus
»Das Symptom ist kein Auftrag«, ist einer dieser Sätze, die Holtz »Hexensätze« nennt. Damit spielt er, der in früheren Jahren gar kantonaler Tischtennismeister war, gekonnt den Ball an sein Gegenüber zurück, lässt es deutlich wissen, wo das Problem im Endeffekt liegt. In dem Moment ist der Pädiater auch der Zuhörer mit sehr feinen Sensoren. »Kommunikation ist genauso wichtig in der Medizin wie die Medizin selbst«, sagt er und betont, dass er natürlich mehr denn je den größten Respekt vor der Medizin habe. Macht das einen guten Kinderarzt aus? Er wisse nicht, ob er ein guter Kinderarzt sei, sagt er bescheiden. Es klingt alles andere als gespielt. Ohne Pathos, aber immer mit größtem Fokus erinnert sich Holtz an seine Zeit als praktizierender Arzt. Er hätte sich nie zu ernst oder zu wichtig genommen.
Wenn Sepp Holtz erzählt, strahlt er Ruhe aus. Die Worte sind sorgfältig gewählt, immer wieder säumt er eine Erklärung mit einer Episode aus seinem großen Fundus an Erfahrung. So auch diese: »Ich betreute eine orthodoxe Familie, deren Jungen ich seit dem Kleinkindalter kannte. Als er von der Jeschiwa zurückkam, hatte er mit der Religion nichts mehr am Hut. Die Eltern suchten Rat bei mir, also fragte ich sie: ›Was wäre denn für Sie beide ein gutes Resultat von diesem Gespräch heute?‹, und nicht: ›Was sind Ihre Sorgen?‹. Die Mutter antwortete dann: ›Ich will meinen glücklichen Jungen wieder haben.‹«
So geht Sepp Holtz auch beim medizinischen Nachwuchs vor, den er nach wie vor ausbildet. Im Rahmen seiner internationalen Lehrtätigkeit mit Vorträgen und Seminaren zu verschiedenen Themen der Entwicklungspädiatrie berichtet er unter anderem davon, dass Eltern den Arzt immer mit Argusaugen beobachten. »Man trägt eine große Verantwortung, wie man mit einem Kind umgeht und ist zusätzlich eine Art Vorbild.«
Gewiss, der Vater von vier erwachsenen Kindern und mittlerweile selbst vierfache Großvater war alles andere als ein Nullachtfünfzehn-Doktor. Auf seinen Schuhen trug er eine Uhr, den weißen Kittel tauschte er schon früh in seiner Karriere gegen lustige T-Shirts aus. Humor und zwischendurch immer der eine oder andere »Hexensatz« zeichnen den gebürtigen Luzerner aus. »Aber das Sprechzimmer ist kein Spielplatz.« Eltern, die zu »Doktor Holtz« – in Zürich ein fester Begriff – kamen, wussten, dass sie ernst genommen werden, und konnten sich darauf verlassen, dass es ihnen besser ging, wenn sie die Praxistür hinter sich schlossen – auch wenn ihr Kind weiterhin krank war.
Die Improvisation verbindet den Beruf des Kinderarztes mit dem des Schauspielers.
Besser geht es auch jungen Eltern, wenn sie »Familienbande« hören. Es ist ein Podcast, der vor einigen Jahren entstand, als Holtz’ Tochter Noa ihr erstes Kind bekam und als junge Mutter plötzlich vor vielen Fragen stand. Aus dem Dialog zwischen Vater und Tochter entwickelte sich die Idee, das Gespräch für alle Neu-Eltern oder solche, die es werden wollen, zugänglich zu machen. Mittlerweile existieren über 200 Sendungen rund um das Thema »Familie werden« und »Familie sein«.
Schon immer steht bei Sepp Holtz das Kind im Zentrum. Der zündende Funke sprang 1984 bei der Staatsexamensprüfung an der Uni Zürich über. »Als ich damals den Professor, der die Prüfung abnahm, mit einem Kind am Boden spielen sah, war mir plötzlich klar, dass ich genauso Medizin machen wollte.« Nach der bestandenen Prüfung meinte der Professor: »Herr Holtz, Sie müssen Kinderarzt werden.«
Die Welt durch Kinderaugen zu sehen, war ihm aber offenbar schon davor gegeben. So ist es auch kein Zufall, dass sich der spätere Oberarzt auch früh der Schauspielerei widmete. »Im Umgang mit Kindern ist es wichtig, im Kontakt mit dem eigenen inneren Kind zu bleiben«, davon ist er überzeugt. Das spielerische Moment, die Überraschung, die Improvisation verbinden den Beruf des Kinderarztes mit dem des Schauspielers. Als einer seiner Vorgesetzten ihn mit Jacob Levy Moreno, dem österreichisch-amerikanischen Arzt, Psychiater, Soziologen und Begründer des Psychodramas, verglich, fiel es Holtz wie Schuppen von den Augen. Er ließ sich weiterbilden und das Psychodrama in seine Konsultationen einfließen.
Theaterarzt am Schauspielhaus Zürich
Auch der Film Patch Adams habe ihn geprägt, ohne je in der Praxis den Clown gespielt zu haben. So fasziniert es Sepp Holtz, der auch einer der Theaterärzte des Schauspielhauses Zürich ist, dass zum Beispiel in Israel weit über den Klinikkontext hinaus traumatisierte Menschen von Clowns begleitet werden. Und es verwundert kaum, dass er heute Projekte vorantreibt, die genau davon leben: Er begleitet Klinik-Clowns, instruiert sie in Sachen Entwicklungspädiatrie, macht zwölfmal pro Jahr Supervision mit ihnen.
In der Schweiz steht die »Stiftung Theodora« hinter dem Spitalclown-Programm. Holtz arbeitet eng mit der Stiftung zusammen. Jede Clownin und jeder Clown gehe mit seiner eigenen Persönlichkeit und seiner Inspiration auf das kranke Kind zu, sagt er. »Wenn ein Kind Leukämie hat, muss der Clown vielleicht einiges über Hygiene wissen, aber die Krankheit ist in dem Moment, in dem der Clown das Krankenhauszimmer betritt, irrelevant. Er hat einzig und allein das Ziel, den gesunden Anteil im Kind für einen Moment zu stärken.« Auch hier sei es die Aufgabe des Clowns, dem Kind, das vielleicht gerade in einer ärztlichen Behandlung ist, wieder die Kontrolle zurückzugeben. Clowns hätten kein therapeutisches Interesse, sie würden immer vom gesunden Teil des Kindes ausgehen.
Und wenn der Clown das Leiden des Patienten oder der Patienten selbst nicht mehr erträgt? Dann komme es stark darauf an, wie der Clown mit der Tragik umgehe. »Im Rahmen einer Supervision konnte eine Clownin nicht verhindern, selbst zu weinen. Sie fing jedoch auf gekonnte Weise ihre Träne auf, und dadurch entstand ein neues spielerisches Moment. Das ist hohe Kunst.« Das sagt der Arzt, der schon sehr viel Tragisches erleben musste und Kinder auch sterben sah. Diese hohe Kunst auf die ärztliche Tätigkeit zu übertragen, sei entscheidend. Da könnte wohl heute auch der einstige Kinderarzt von »Seppli« viel von Sepp Holtz dazulernen.