Ukraine

Bangen im Donbass

Das Leben in Mariupol geht weiter – während die Separatisten in den Wäldern auf den Befehl warten, die Stadt zu stürmen. Foto: dpa

Die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer steht derzeit im Fokus der ukrainischen Medien. Seit Tagen befürchten die Bewohner, dass pro-russische Separatisten ihre Stadt einnehmen könnten.

Mitte vergangener Woche ist die nur 20 Kilometer östlich gelegene Nachbarstadt Nowoasowsk von Rebellen erobert worden. Die Separatisten sollen von regulären russischen Truppen unterstützt werden. Auf Fernsehbildern ist zu sehen, dass mit schwerem militärischen Gerät gekämpft wird. Die Separatisten verfügen über moderne Waffen, haben sich teilweise in den Wäldern um Mariupol eingegraben und warten nur noch auf den Befehl, die Stadt einzunehmen.

Schutzwälle Das gesamte Wochenende über haben die Menschen von Mariupol zusammen mit Grenzschützern Schutzwälle gegraben. Ein Großteil der 470.000 Einwohner hat die Stadt allerdings schon verlassen. Im Fernsehen waren kilometerlange Autokolonnen zu sehen, vor allem Familien kehrten Mariupol den Rücken. Einer der größten Arbeitgeber, der staatliche Hafen, forderte seine Mitarbeiter am Freitag auf, sich Richtung Odessa aufzumachen. Dort stünden Plätze in Sanatorien und Hotels zur Verfügung.

Auch die jüdischen Gemeinden im Donbass erleben seit Monaten eine Fluchtwelle. Allerdings zählte Mariupol bis vor wenigen Tagen zu den Städten in der Ostukraine, die Flüchtlinge aufnahmen. Ludmilla, die nicht möchte, dass ihr vollständiger Name genannt wird, ist Mitarbeiterin eines Hilfszentrums in Mariupol, das von der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation Joint unterstützt wird. Die jüdische Gemeinde der Stadt betreibt das Zentrum. Es ist eine Anlaufstelle für Hilfsbedürftige – auch Juden, die aus den Regionen Lugansk und Donezk geflüchtet waren, haben hier vorübergehend ein Dach über dem Kopf gefunden.

»Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben, was es heißt, auf der Flucht zu sein«, sagt Ludmilla am Telefon. Für die meisten Flüchtlinge sei es schwer, sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Hinzu käme die Angst, nicht zu wissen, wie es weitergeht – und wohin. Ludmilla selbst will nicht weg aus Mariupol. Sie hat sich auf den Ernstfall vorbereitet und in ihrem Keller Matratzen, Lebensmittel und Medikamente zusammengetragen. Sollte es zum Angriff auf Mariupol kommen, wird sie in den Keller ziehen.

Kämpfe »Die meisten Menschen sind bereit, jederzeit abzureisen«, sagt der Chabad-Rabbiner von Mariupol, Mendel Cohen, der Jüdischen Allgemeinen: Das sei nach all den Monaten der Kämpfe aber auch nicht verwunderlich. Seine Gemeinde ist die einzige der vier ostukrainischen, die noch funktioniere. »Ich hoffe, Mariupol wird keine neuen Zusammenstöße erleben«, sagt er.

In der Zeit von Anfang Mai bis Mitte Juni gab es in der Stadt heftige Gefechte. Den ukrainischen Truppen gelang es damals jedoch, die Separatisten zurückzudrängen. Weil die Stadt Donezk seit Monaten besetzt ist, hatten der Gouverneur und die Regionalverwaltung ihren Amtssitz nach Mariupol verlegt. Doch vor wenigen Tagen zogen sie weiter in das rund 200 Kilometer nordwestlich gelegene Saporischja.

Rabbi Cohen will in Mariupol bleiben. Er bereitet sich darauf vor, Rosch Haschana in der Stadt zu feiern. Doch die Vorbereitungen sind diesmal viel schwieriger als in früheren Jahren. Viele Geschäfte in der Hafenstadt sind geschlossen, die große Supermarktkette ATN hat schon vor Monaten ihren Betrieb eingestellt. Ludmilla erzählt von Preissteigerungen und langen Schlangen wartender Menschen, wenn es irgendwo in der Stadt frische Lebensmittel gibt. Ein weiteres Problem sei, dass die Banken nur noch unregelmäßig arbeiten. Geldautomaten würden aus Sicherheitsgründen nicht mehr aufgefüllt. Wann immer man Geld brauche, müsse man direkt zum Bankschalter, sagt sie. Auch dort warteten die Menschen oft stundenlang. Fremdwährungen wie Euro oder Dollar sind in der gesamten Ostukraine offiziell nicht mehr zu bekommen.

Gewalt Nach der Annexion der Krim Mitte März besetzten pro-russische Gruppen nur wenige Wochen später die ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk. Bereits im April hatten die Separatisten eine große Anzahl staatlicher Gebäude in mehr als 15 Städten besetzt. Vor allem die Stürmung der Regionalverwaltung, des Amtssitzes des Gouverneurs von Donezk, sowie die Besetzung der Städte Slowjansk, Kramatorsk und Mariupol schraubten die Spirale der Gewalt immer weiter nach oben.

Nachdem die Ukrainer Ende Mai mit großer Mehrheit Petro Poroschenko zum neuen Präsidenten gewählt hatten, verschärfte die neue politische Führung in Kiew die, wie sie es nennt, Anti-Terror-Operation. Mittlerweile haben die Kämpfe nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) mehr als 2600 Menschenleben gefordert. Fast 350.000 Menschen seien auf der Flucht – darunter auch Juden. Die UN werfen den bewaffneten Milizen schwere Menschenrechtsverletzungen vor.

Wo immer sich dieser Tage in Mariupol Menschen treffen, sei der Krieg das Hauptthema, berichtet Ludmilla. »Wir sehen täglich bewaffnetes Militär. Was wir früher nur aus dem Fernsehen kannten, ist jetzt unser Alltag«, sagt sie.

Flugblätter Am Sonntag verstärkten die ukrainischen Streitkräfte ihre Präsenz in Mariupol, schwere Militärfahrzeuge gingen vor allem an den Zufahrtsstraßen in Stellung. Das Onlineportal des Politikmagazins Korrespondent berichtet, am Rand der Fernstraße, die Nowoasowsk mit Mariupol verbindet, seien Flugblätter gefunden worden, die zur Unterstützung der Soldaten der Russischen Föderation aufrufen.

Josef Zissels, Vorsitzender der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinden in der Ukraine, sagte der Jüdischen Allgemeinen, die Menschen sollten nicht »alles glauben, was derzeit über die Vorgänge in der Ostukraine verbreitet wird«. Solche Berichte könnten zu »unnötiger Panik und Verunsicherung führen«. Er sehe den russischen Präsidenten am Hebel: Wladimir Putin plane, in der Ukraine »eine stabile Instabilität herbeizuführen, damit er die Kontrolle behalten kann«.

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