Alexander Feldmann spricht in einem Hotel in Washington vor amerikanischen Kongressabgeordneten und Vertretern der jüdischen Gemeinschaft in den USA. »Helfen Sie uns, damit es auch in Zukunft jüdisches Leben in der Ost-Ukraine gibt«, sagt Feldmann. Er ist Präsident des Ukrainisch-Jüdischen Komitees (UJC) und Abgeordneter des ukrainischen Parlaments.
Der 55-Jährige stammt aus Charkiw im Osten des Landes. Die Stadt liegt genau an der Grenze zu den umkämpften Gebieten der Regionen Donezk und Lugansk. »Meine Heimatstadt platzt aus allen Nähten«, berichtet Feldmann, »es werden dort derzeit keine Flüchtlinge mehr aufgenommen.«
Vor allem die jüdischen Gemeinden in den Städten Donezk und Mariupol erleben eine bisher nie gekannte Fluchtwelle. Seit vergangenem Sommer hat rund die Hälfte der Juden den Osten der Ukraine verlassen. Nach aktuellen Schätzungen leben noch etwa 10.000 Juden im Donbass, vor allem in kleineren Städten. Insgesamt sind seit Ausbruch der Kämpfe fast zwei Millionen Menschen von dort geflohen. Die Hälfte von ihnen lebt seitdem in anderen Städten der Ukraine: bei Verwandten, in Turnhallen oder Gemeindezentren.
Befürchtung In Lugansk gab es einen Trend, gleich nach Israel oder Russland auszureisen. »Ich befürchte, diese Menschen werden auch nach Ende des Krieges nicht wieder in die Ukraine zurückkehren«, sagt Feldmann.
Nicht nur in Charkiw, auch in Dnepropetrowsk und in Odessa haben viele jüdische Flüchtlinge mittlerweile Unterkunft gefunden. In Dnepropetrowsk kümmert sich das Menorah Center um mehrere Tausend Menschen, die vor den Kämpfen geflohen sind. Man hilft ihnen nicht nur bei alltäglichen Fragen wie der Wohnungs- oder Arbeitssuche, sondern sie können hier auch weiterhin ein religiöses Leben führen. So gab es vor einigen Wochen eine Hochzeitsfeier, bei der 19 Paare gleichzeitig getraut wurden. Das Center beherbergt nicht nur eine Synagoge, sondern auch koschere Restaurants und Geschäfte.
»Das sollten andere Städte, die jüdische Flüchtlinge aufnehmen, auch anbieten«, meint Gennadi Boholjubow, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Dnepropetrowsk und einer der Finanziers des Menorah Center.
Waffenruhe Obwohl in der Ost-Ukraine am Sonntag eine Waffenruhe in Kraft getreten ist und die Kriegsparteien versichert haben, schweres Kriegsgerät abzuziehen, kann keiner sagen, ob der Frieden dauerhaft sein wird. Zudem ist der Status der von pro-russischen Separatisten besetzten Gebiete in den Regionen Donezk und Lugansk nach wie vor unklar. Die Separatisten streben eine größtmögliche Autonomie gegenüber der Zentralregierung in Kiew an.
»Meiner Meinung nach müssen die Leute so schnell wie möglich evakuiert werden, denn die Situation wird in der nächsten Zeit kaum besser. Schlimmer kann es aber jederzeit noch werden«, sagt Josef Zissels, der Vorsitzende der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinden (VAAD) im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. »Was genau das für das jüdische Leben in den Städten Mariupol und Donezk bedeutet, können wir nicht vorhersagen«, so Zissels.
Die Rabbiner hätten mit ihren Familien bereits im vergangenen Sommer Lugansk, Donezk und Mariupol verlassen, sagt Zissels. Allerdings ist die Synagoge in Donezk trotz der heftigen Kämpfe der vergangenen Wochen nach wie vor geöffnet. Geschlossen sind hingegen die jüdischen Schulen. Kindergärten und Sozialzentren arbeiten eingeschränkt weiter. Es ist zunehmend schwierig, Medikamente und Lebensmittel in die Regionen zu liefern oder Geld zu schicken, zudem ist ein Teil der Mitarbeiter bereits ausgereist. Mit großen Schwierigkeiten erreichen die Gemeinden einige Lebensmittellieferungen aus Dnepropetrowsk und zu einem kleinen Teil auch aus dem russischen Rostow am Don.
In den vergangenen Wochen wurde vereinzelt vorgeschlagen, die jüdischen Gemeinden der Ost-Ukraine mit denen in Russland zu vereinigen. Josef Zissels spricht sich energisch gegen diesen Plan aus: »Die Funktionäre, die dort geblieben sind, haben kein Recht, darüber zu entscheiden, zu wem die Gemeinde gehören soll – und schon gar nicht, wenn sie bedroht oder unter Druck gesetzt werden.«
Alltag In Mariupol schrumpfte die Gemeinde trotz aller Schwierigkeiten lange Zeit kaum. Die meisten der rund 7000 Mitglieder blieben in der Stadt. Den Separatisten ist es bisher nicht gelungen, Mariupol zu besetzen. Das liegt vor allem daran, dass die ukrainische Armee zahlreiche Truppen zur Verstärkung der vielen Freiwilligenverbände geschickt hat.
Doch je länger die Lage in der Stadt angespannt bleibt, desto mehr Menschen kehren der Hafenstadt den Rücken. Inzwischen haben rund 2000 Juden die Stadt verlassen – und das, obwohl es auch dort, ähnlich wie in Dnepropetrowsk, große Anstrengungen gibt, den Menschen den Alltag so erträglich wie möglich zu machen.
Sofia, die ihren vollen Namen nicht nennen möchte, gehört zu denjenigen, die Mariupol kürzlich verlassen haben. Sie ist 33 Jahre alt und hat dort als Kinderärztin gearbeitet. Vor zwei Wochen kam sie in Kiew an. Zusammen mit ihrer Mutter und ihrer zweijährigen Tochter wartet sie nun auf die Ausreise nach Israel. »Mein Mann ist schon seit drei Monaten dort. Mittlerweile hat er eine kleine Wohnung und Arbeit gefunden, sodass wir nachkommen können«, sagt sie.
Beschuss Immer mehr Menschen im Osten der Ukraine haben Angst. In der vergangenen Woche wurde in der Stadt Kramatorsk, die bislang nicht von Separatisten besetzt ist, ein Wohngebiet beschossen. Dabei kamen sechs Menschen ums Leben, unter ihnen Inna Schelkajewa. Die 54-Jährige hatte im jüdischen Kindergarten der Stadt gearbeitet. Wegen der Kämpfe konnte sie nicht nach den religiösen Regeln bestattet werden. Der Fall löste eine neue Debatte um die Auswanderung ukrainischer Juden aus.
Auch nach der vergangene Woche in Minsk vereinbarten Waffenruhe ist vollkommen offen, wie sich die Lage im Osten der Ukraine entwickeln wird. Die Separatisten führen in den von ihnen kontrollierten Gebieten ein strenges Regime: Seit Monaten gibt es nachts eine Ausgangssperre, außerdem wird die Todesstrafe wieder vollstreckt.
Etliche, die sich den pro-russischen Verbänden angeschlossen haben, sind als russische Nationalisten bekannt, so zum Beispiel der Donezker Neonazi und frühere Skinhead Alexander Matjuschkin. Er sagte kürzlich im russischen Fernsehen, dass er in den vergangenen Monaten mehrere Kundgebungen zur Unterstützung der »Volksrepublik Donezk« organisiert habe. Diese sogenannten Russischen Märsche hätten auch dazu gedient, neue Mitglieder für die von ihm gegründete Jugendorganisation »Warjag Crew« zu rekrutieren.
Matjuschkin lässt sich gern in martialischer Pose mit freiem Oberkörper fotografieren. Auf den Bildern sind zahlreiche Tätowierungen mit nationalsozialistischen Motiven zu erkennen.
Auch die Anführer der »Volksrepublik Donezk« haben immer wieder durch antisemitische Äußerungen von sich reden gemacht. Zuletzt griff Alexander Sachartschenko Anfang Februar die ukrainische Regierung an und beschimpfte die prowestlichen Politiker in Kiew als »armselige Vertreter des großen jüdischen Volkes«.