Eine Schlagzeile in der belgischen Tageszeitung De Standaard sorgte zu Beginn des Sommers für Aufregung: In 50 Jahren werde es keine Juden mehr in Antwerpen geben, der Stadt, die gemeinhin als Symbol jüdischen Lebens im Land gilt. Die Warnung kam aus berufenem Mund: Alexander Zanzer, Direktor der jüdischen Wohlfahrtsorganisation De Centrale. Zanzer (65), in Russland geboren und mit sechs Jahren nach Antwerpen gezogen, macht sich große Sorgen, denn seit einigen Jahren verlassen immer mehr junge Juden die Stadt. »Sie gehen zum Studium nach England, Israel oder in die USA – und kehren nicht zurück.«
Auf die Frage nach den Hintergründen dieser Entwicklung verweist Zanzer zunächst auf die Vergangenheit. »Die jüdische Gemeinschaft fühlte sich extrem sicher in Antwerpen. Außerdem war es eine prosperierende Umgebung.« Beides trifft heute nicht mehr zu. Wie in vielen anderen westeuropäischen Großstädten machen muslimische Einwohner auch in Antwerpen dort lebende Juden für den Nahost- Konflikt verantwortlich. Während des Gazakriegs erreichten Drohungen und Übergriffe einen traurigen Höhepunkt. Die starke öffentliche Präsenz jüdischen Lebens in Antwerpen bietet Fundamentalisten ein leichtes Ziel. Enttäuscht ist Zanzer von der fehlenden politischen Reaktion. »Es ist nicht nur ein jüdisches Problem, wenn die Menschen sich hier nicht mehr sicher fühlen. Es betrifft die ganze Gesellschaft.«
globalisierung Die Unsicherheit unter Antwerpens Juden hat aber auch eine wirtschaftliche Seite. Seit Jahren sinkt der jüdische Anteil im Diamantengeschäft rapide. Von einst 90 Prozent ist er auf deutlich unter die Hälfte gefallen. Indische Händler, die zu Niedriglöhnen produzieren lassen, dominieren inzwischen den Sektor, auch chinesische sind im Kommen. Wolf Ollech (54), Inhaber einer Schleiferei im Diamantenviertel nahe des Bahnhofs, relativiert dies zunächst. »Was derzeit passiert, ist Teil der globalen wirtschaftlichen Entwicklung. Kleinere Akteure bleiben auf der Strecke. Die Supermärkte verdrängen doch auch die Lebensmittelläden. Kleine Selbstständige haben es schwer.«
Ein kleiner Selbstständiger ist auch Wolf Ollech geworden. Nur noch vier statt einstmals 40 Angestellte hat er, der das Handwerk wie damals üblich von seinem Vater erlernte. Er selbst hat sich damit abgefunden, dass er seinen Betrieb nicht an die nächste Generation weitergeben wird. Sein Sohn hat sich als Fliesenleger selbstständig gemacht. Auch Ollechs Bruder hat »den Diamant«, wie man hier sagt, gegen einen Job in der Kältetechnik-Branche eingetauscht. Berufe wie der des Diamantenspalters werden überflüssig, da Steine nun per Laser geteilt werden. Technologie hat das Handwerk ersetzt, und seither verdienen viele Juden in Antwerpen ihr Geld mit »Dingen, an die man vor 20 Jahren nicht einmal gedacht hat«, so Ollech.
Vielen fällt diese Umstellung schwer. Die Wohlfahrtseinrichtung De Centrale, die in diesem Jahr ihr 90-jähriges Bestehen feiert, beschränkt sich längst nicht mehr auf das Altenheim mit seinen 30 Plätzen, auf mobile Haushaltshilfe und ein Feriencamp am Meer. Mit dem Verfall der Diamantenbranche gehen Arbeitslosigkeit und Verarmung einher. »Viel mehr Menschen stecken in Schwierigkeiten, sozial, finanziell und psychologisch«, sagt Alexander Zanzer.
demografie Die wirtschaftlichen Veränderungen zeigen unter den Juden Antwerpens immer mehr demografische Folgen. Die meisten Menschen, die bei der Centrale Hilfe suchen, sagt der Direktor, seien streng orthodox. Sie konnten die Arbeit »im Diamant« früher in ein Leben einbinden, das der Familie sowie dem Studium von Tora und Talmud gewidmet war. Hochschulabschlüsse waren dafür nicht nötig. Heute geht diese Rechnung nicht mehr auf.
Wer die nötige Bildung hat, verlässt dagegen zunehmend die Stadt. Seit zehn Jahren ist die Abwanderung massiv, berichtet Jacques Wenger, Geschäftsführer der orthodoxen Shomre-Hadas-Gemeinde. Keine Woche vergeht, ohne dass er Gemeindemitglieder verabschiedet. Er stellt denen, die Alija machen, Dokumente aus, die sie in Israel als Juden ausweisen. Dies hinterlässt bei ihm ein zwiespältiges Gefühl: »Einerseits freue ich mich für die jungen Menschen, denn ich glaube, die Zukunft in Europa ist nicht besonders gut für Juden. Auf der anderen Seite bin ich traurig, weil Antwerpen langsam untergeht, wie ein Boot.«
Schtetl Jacques Wenger lebt seit 35 Jahren in der Stadt. Für ihn ist sie »wie ein Schtetl: 15.000 Juden, aber jeder kennt jeden.« Ende des Jahres heißt es auch für ihn, Abschied zu nehmen vom »schönen jüdischen Leben Antwerpens«. Wenger ist über 60, seine Tochter wohnt schon seit Langem mit ihrer Familie in Israel. Dorthin zieht es auch ihn: »Ich möchte Großvater sein.« Alexander Zanzer liest an einer anderen Begebenheit ab, dass Antwerpens Stern bei vielen Juden sinkt. »Wenn Gemeindemitglieder von hier früher jemanden aus einer anderen Stadt oder aus dem Ausland heirateten, zog der Partner hierher. Heute ist es umgekehrt.« Um die Probleme anzugehen, fordert Zanzer Realitätssinn: »Der Diamant war ein bequemes Kissen für alle. Aber das ist vorbei und wird nie mehr wiederkommen. Wir müssen junge Juden in Berufen außerhalb der Diamantenbranche ausbilden.«
Für den Mangel an Beschäftigungsalternativen nimmt er aber die flämische Mehrheitsgesellschaft in die Pflicht, deren Offenheit gegenüber der jüdischen Bevölkerung ihre Grenzen habe: »Wir mögen unsere jüdischen Freunde, die im Diamantensektor arbeiten«, sagt Zanzer in ironischem Tonfall und schlussfolgert: »Das bedeutet aber auch, dass wir sie nicht im Vorstand der großen Firmen haben wollen.« Just diese Mentalität treibt junge Juden weg von Antwerpen. Es ist nicht so, dass Zanzer sie nicht versteht: »In den USA zum Beispiel ist es wirklich multikulturell, und Juden sind Teil der Gesellschaft.« Dennoch wünscht er sich, dass seine Langzeitprognose falsch sein möge. »In den nächsten fünf Jahren wird sich entscheiden, wohin es für die jüdische Gemeinde Antwerpens geht.«