Jom Haschoa

Auszeit vom Schmerz

Freuen sich den ganzen Monat auf den Termin: Für viele wie Hedwig und Jacob Weiss (l.u.) oder Avi Felsman (M.r.) ist das monatliche Treffen im »Club 2600« ein Anker im Leben. Foto: Sebastian Moll / Getty Images

Das »Merkaz Hasimcha« ist ein unscheinbarer Backsteinbau in­mitten eines unscheinbaren Viertels voller Backsteinbauten, irgendwo im endlosen Meer gesichtsloser Stadtviertel zwischen der Brooklyn Bridge und Coney Island. Midwood heißt die Gegend hier, und das Einzige, das sie von angrenzenden Bezirken wie Flatbush, Mapleton oder Homecrest unterscheidet, ist, dass in den kleinen Läden entlang der Haupteinkaufsstraße, der Avenue M, die Besitzer und Verkäufer nicht Spanisch oder Arabisch sprechen, sondern Jiddisch, Russisch oder Hebräisch.

Die Stimmung im Viertel ist an einem gewöhnlichen Dienstagvormittag verschlafen, die Kinder sind noch in der Schule, für die Menschen in den Büros hat die Mittagspause noch nicht begonnen. Der Teig für die Pizzen im Imbiss an der Ecke wird noch geknetet, die Verkäufer der zahlreichen Hutgeschäfte stehen auf der Straße und unterhalten sich. Allein vor dem Merkaz Hasimcha, wo gewöhnlich Hochzeiten oder Bar- und Batmizwa-Feiern stattfinden, herrscht reges Treiben. Im Minutentakt fahren Kleinbusse und Taxis vor und spülen festlich gekleidete ältere Menschen auf den Bürgersteig. Der große Saal des Merkaz Hasimcha öffnet zwar erst in einer Stunde, doch die Gäste nehmen das Warten im Flur gern in Kauf. Den ganzen Monat freuen sie sich schon auf diesen Tag und das Treffen des »Club 2600«.

Der Name stammt von der ursprünglichen Adresse der monatlichen Zusammenkunft nicht weit von hier an der Nummer 2600 Ocean Avenue, wo vor mehr als 20 Jahren erstmals die Schoa-Überlebenden aus den Vierteln des südlichen Brooklyn zusammenkamen.

Jüdische Enklaven entlang der Strände von Coney Island und Brighton Beach

Hier, vor allem in den jüdischen Enklaven entlang der Strände von Coney Island und Brighton Beach, fanden die meisten Überlebenden aus Osteuropa bis weit in die 50er-Jahre hinein ihr erstes Zuhause in der Neuen Welt. Sie breiteten sich später in die benachbarten Viertel entlang des Ocean Parkway, der großen Magistrale vom Zentrum von Brooklyn hinaus ans Meer, aus, wo sie bescheidene Einfamilienhäuser kaufen konnten. Viele schafften den Sprung nach Manhattan oder ganz weg aus New York, bis nach Kalifornien. Doch bis heute wohnen in Brighton Beach und den angrenzenden Vierteln außergewöhnlich viele Holocaust-Überlebende.

Seit den ersten Zusammenkünften in einem kleinen Raum an der 2600 Ocean ist das Treffen, der statistischen Logik widersprechend, enorm angewachsen. Punkt zwölf öffnet sich die Tür zum Festsaal: Rund 20 große ovale Tische sind gedeckt, an denen je ein Dutzend Menschen Platz finden. Der Andrang ist so groß, dass Zehava Birman Wallace, die Organisatorin des Jewish Community Center (JCC) of Greater Coney Island, immer wieder mahnen muss, doch bitte keine Plätze frei zu halten, damit jeder einen Stuhl bekommt.

Viele haben nicht nur psychologisch, sondern auch wirtschaftlich zu kämpfen.

Die Treffen der Überlebenden werden von der Jewish Claims Conference finanziert, die Entschädigungsgelder der deutschen Bundesregierung verwaltet. Dass hier der Club 2600 regelmäßig zusammenkommt, hat sich herumgesprochen. Es treffen sich Holocaust-Überlebende aus ganz New York, um zu essen, zu tanzen, das Leben zu feiern. »Viele unserer Klienten«, sagt Birman Wallace, »haben mit Einsamkeit und Depression zu kämpfen.« Der monatliche Termin ist für sie ein Anker im Leben, vor allem, wenn sie verwitwet sind, wie viele in diesem Alter.

Etliche der Überlebenden im Einzugsgebiet des JCC von Coney Island haben jedoch nicht nur psychologisch, sondern auch wirtschaftlich zu kämpfen. Das Gemeindezentrum, das eines der umfangreichsten Programme zur Betreuung von Holocaust-Überlebenden in New York betreibt, zählt derzeit rund 3000 »Klienten«, wie Zehava Birman Wallace die Menschen nennt, um die sie sich kümmert. Sie bekommen warme Mahlzeiten nach Hause geliefert, man stellt Fahrdienste zur Verfügung, hilft bei der Bearbeitung von Krankenversicherungsansprüchen.

»Der Bedarf ist groß«

»Der Bedarf ist groß«, sagt Birman Wallace. Fast jede Woche erhalte sie um die zehn Bewerbungen, im vergangenen Jahr war die Warteliste vorübergehend auf 275 Namen angewachsen. »Um den gesamten Bedarf zu decken, bräuchten wir etwa zehn Millionen Dollar mehr.« Gerade jetzt, da die Überlebenden sehr alt würden, sei ihre Not am größten.

Der heutige Nachmittag ist jedoch dazu da, die Sorgen zu vergessen. Der Raum ist mit bunten Luftballons geschmückt, aus den Lautsprechern tönen Gassenhauer wie Frank Sinatras »My Way« und »Hava Nagila«. Einige Jugendliche von der örtlichen Highschool gehen im Raum umher und verteilen Lose für ein Gewinnspiel. Livrierte Kellner huschen umher und teilen Vorspeisen aus.

Über die schmerzhafte Vergangenheit, die allen hier gemeinsam ist, mögen an diesem Tag nur wenige reden, auch wenn sie natürlich schwer im Raum hängt. Die Versuche der Gastgeber vom JCC, die Stimmung anzuheizen, können nur dürftig übertünchen, dass sich hier eine Menge an kollektivem Trauma zusammengefunden hat, wie sie wohl nur selten auf der Welt anzutreffen ist. Doch neben dieser Schwere ist auch ein überwältigender Geist von Lebenswillen und Lebensmut spürbar.

Hedwig Weiss etwa strahlt eine ansteckend positive Energie aus. Die 95-Jährige wirkt weitaus jünger. In ihrem eleganten, eng anliegenden Wollkleid könnte sie in Manhattan auf jeder Cocktailparty punkten. Sie plaudert gewitzt und charmant und lacht unentwegt. Ein besonders glückliches Lächeln zaubert sich in ihr Gesicht, als sie berichtet, dass sie mit ihrem Mann Jacob, der neben ihr sitzt, inzwischen 75 Jahre lang verheiratet ist. Jacob kann der Unterhaltung wegen einer Hörschwäche nicht ganz folgen, doch er schaut seine Hedwig mit verliebten Augen an, sodass man weiß, dass er sie versteht.

Über die schreckliche Vergangenheit, die allen hier gemeinsam ist, mögen nur wenige reden.

Die Geschichte der beiden mag sie dann auch nur im Schnelldurchlauf erzählen. Jacob und Hedwig stammen aus Tschechien und haben sich Anfang der 40er-Jahre in Budapest kennengelernt. Dort haben sie die Schoa überlebt, ins Detail mag Hedwig nicht gehen. »Es war nicht schön«, sagt sie knapp, und zum ersten Mal verdüstert sich kurz ihre Miene.

Nach Amerika seien sie dann über das neu gegründete Israel Anfang der 50er-Jahre gekommen. Mittellos zwar, doch immerhin hatten sie einander. Hedwig hat sich dann zunächst mit jeder Arbeit durchgeschlagen, die sie bekommen konnte, und sich später ein Studium an einer Modefachschule selbst finanziert. Gearbeitet hat sie dann als Modeschneiderin, doch das ist lange her, die beiden sind schließlich schon seit Jahrzehnten im Ruhestand.

Ein Erzählschwall bricht aus ihm heraus

Ein Mann immerhin möchte an diesem Abend mit dem deutschen Journalisten über die Vergangenheit reden – und das, ohne gefragt zu werden. Avi Felsman, in einen dunklen Anzug gekleidet und mit sorgfältig gestutztem Bart, geht von sich aus auf den Reporter zu, und dann bricht aus ihm ein Erzählschwall heraus, jederzeit kurz davor zu explodieren.

Felsman berichtet davon, wie es war, als im Jahr 1939 die Nazis in seinen Heimatort Lukow in Polen kamen, 45 Lastwagen voll deutscher Soldaten seien es gewesen. Er erzählt davon, wie es wahllose Erschießungen gab, nachdem ein polnischer Soldat einen deutschen Soldaten erschossen hatte. Er erzählt davon, wie sein Vater Josef, nachdem er mehrere Monate in einem Lager war, zurückkam und mit der Familie nach Osten floh, immer weiter, wie sie als Bauern in Sibirien den Krieg überlebten. Schließlich berichtet Avi Felsman davon, wie sie nach dem Krieg nach Lukow zurückkamen und keinen mehr antrafen. Die Nazis hatten die gesamte Verwandtschaft in den Lagern ermordet.

Der alte Mann erzählt seine Geschichte mit wachsender Erregung, schaut dem Zuhörer mit bohrendem Blick in die Augen und stellt schließlich die klagende Frage: »Wie konnte so etwas sein? Wie konnte ein gebildetes Volk so etwas zulassen?« Schließlich packt ihn seine Frau am Ärmel und versucht, ihn zu beruhigen und abzulenken, nimmt ihn mit durch den Saal, um Bekannte zu begrüßen.

Jeder hier im Club 2600, so scheint es, hat seinen eigenen Umgang mit der Vergangenheit und mit dem Leben gefunden. Je länger die Party geht, desto mehr macht sich jedoch Ausgelassenheit breit. Wer noch gut zu Fuß ist, steht nach dem Dessert auf und schwoft ein wenig zu den Klängen einer Hammondorgel, die ein Unterhalter bedient. Es wird die Freude spürbar, zu leben, hier zu sein.

Nach zwei Stunden ist das Treffen zu Ende. Die Frühlingssonne strahlt wärmend über die Avenue M, und die Gäste treten langsam und zaudernd auf die Straße hinaus, um in ihre Fahrgelegenheiten zu steigen. Niemand möchte wirklich schon nach Hause gehen, ein Zuhause, das oft einsam ist. Was dann bleibt, ist die Erinnerung und das Wissen, dass es diesen Club gibt und im nächsten Monat wieder ein Treffen mit Menschen, die verstehen, was es bedeutet, überlebt zu haben.

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