Tanya und ihre Kollegin arbeiten bei einer jüdischen Sozialorganisation in St. Petersburg. Beide sitzen an ihren mit Papier beladenen Schreibtischen in einem engen Raum und füllen Formulare aus. Nur tragen sie nicht wie gewöhnlich Angaben über ihre betagten Schützlinge und ihnen unterbreitete Hilfsangebote ein, sondern stehen ausnahmsweise selbst im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit: Sie wollen israelische Papiere beantragen.
Berechtigt sind sie dazu beide. Tanya besitzt neben den zwingend vorzulegenden Dokumenten sogar eine Scheidungsurkunde ihrer Eltern mit Passfotos, ausgestellt von einem Moskauer Rabbinatsgericht. Allein das Datum ist für ungeübte Augen nicht zu erkennen, da nur der Gerichtsstempel kyrillische Buchstaben enthält, der Text an sich aber auf Hebräisch verfasst ist.
Auswandern Der Krieg in der Ukraine verunsichert viele Menschen in Russland. Wer jüdische Wurzeln nachweisen kann, hat zumindest die Option, eine Auswanderung nach Israel in Erwägung zu ziehen. Die Wartezeiten im Petersburger israelischen Konsulat betragen nach aktuellem Informationsstand allerdings etwa neun Monate. An eine überstürzte Abreise ist also nicht zu denken. Eigentlich will Tanya gar nicht weg aus Russland, aber sie hat eine fast erwachsene Tochter und ist um deren Zukunft besorgt.
Durch die Sanktionen gegen Russland im Finanzwesen stellt sich derzeit allen Einrichtungen mit ausländischen Fördermitteln die Frage, wie und ob sie überhaupt noch solche Gelder beziehen können.
Wie es mit ihrer Arbeit weitergeht, ist unklar, besser gesagt, mit der Bezahlung. Durch die Sanktionen gegen Russland im Finanzwesen stellt sich derzeit allen Einrichtungen mit ausländischen Fördermitteln die Frage, wie und ob sie überhaupt noch solche Gelder beziehen können. Hinzu kommt, dass es schwer geworden ist, Devisen zu beschaffen, deren Ausfuhr zudem auf 10.000 US-Dollar beschränkt wurde. »Es wird noch so weit kommen, dass wir uns mit nur einem Koffer voller Kleidung auf den Weg machen müssen«, befürchtet Tanya.
PÄSSE Andere hatten in kluger Voraussicht längst israelische Pässe beantragt, aber immer noch die Hoffnung gehegt, bleiben zu können. Bis jetzt. Trotzdem sind nicht alle russischen Juden bereit, trotz Krieg und Sanktionen einen Schlussstrich zu ziehen. Nicht zu vergessen jene, die nach dem Zerfall der Sowjetunion viel dafür investiert haben, damit sich in russischen Städten jüdisches Leben, auch religiöses, wieder einen festen Platz erobern konnte. Panikstimmung will die Föderation jüdischer Gemeinden Russlands jedenfalls vermeiden.
Yael Yoffe, die Leiterin des jüdischen Gemeindezentrums in Wolgograd, sieht bislang keine gravierenden Folgen für ihre weitere Arbeit. Allerdings befürchtet sie, dass zu erwartende Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Waren des täglichen Gebrauchs vor allem Ältere in arge Bedrängnis bringen könnten. Und wenn sich die wirtschaftliche Lage insgesamt verschlechtere, wirke sich das natürlich auch auf die Möglichkeiten der Gemeinde aus, Unterstützung zu leisten.